Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

79 
barkeit der Staatsgewalt noch die monarchische 
Grundstruktur des deutschen Konstitutionalismus. 
Organisatorische Verteilung der staatlichen Grund- 
sunktionen ist nicht Zerreißung der Staatsgewalt.) 
Gerade die preußische Verfassungsurkunde ist 
der beste Beleg dafür, daß man die Verfassungen 
nach der Eigenart der heimischen Rechte und dem 
ganzen geschichtlichen und rechtlichen Tatbestand 
prüfen und auffassen muß, mögen auch mancherlei 
fremde Rechtsgedanken in der Verfassung rezipiert 
sein. Auf der andern Seite darf bei Erklärung 
der Verfassung dem klaren Wortlaut der Verfas- 
sungsgarantien nicht Eintrag getan werden aus 
juristischen theoretischen Konstruktionen heraus. 
(Ein Beispiel hierfür bietet die Auffassung von 
der Tragweite des Budgetrechts des deutschen 
Reichstags, wie sie Laband entgegen dem Wort- 
laut der Reichsverfassung und entgegen der Praxis 
des Reichsstaatslebens konstruiert; vgl. A. Ott, 
Das Budgetrecht des deutschen Reichstags, in 
Frankfurter zeitgemäße Broschüren XXI (19021 
105,/111) 
Was den Inhalt der Verfassungsurkunden 
angeht, so liegt diesen zwar im allgemeinen die 
Tendenz unter, die grundlegenden Verfassungs- 
rechtssätze in einer gewissen systematisierenden 
Vollständigkeit zu bringen. Aber selbst von diesen 
grundlegenden Verfassungsbestimmungen fehlen 
in den einzelnen Verfassungsurkunden manche. 
Auf der andern Seite regeln die Verfassungen 
oft Dinge, die an sich weniger wichtig erscheinen 
oder doch gewöhnlich als Gegenstand der einfachen 
Gesetzgebung betrachtet werden. 
Eine Sonderart in Bezug auf ihren Inhalt 
bieten die Verfassungen einzelner Staaten der 
Nordamerikanischen Union, die zu kleinen Gesetz- 
büchern herangewachsen sind. Es hängt dies zu- 
sammen mit dem Umstand, daß dort eine Reihe 
von Gegenständen der einfachen Gesetzgebung ent- 
zogen und der erschwerenden Verfassungsgesetz- 
gebung überwiesen sind; es geschah dies zum Zweck 
der Rechtssicherheit und der Stabilität der Gesetze 
aus Gründen, die in den dortigen Verhältnissen 
liegen (ogl. Jellinek, Allgem. Staatslehre: 
(1905)] 519/520). 
4. Zweckund Aufgabe der modernen 
Verfassungsurkunden. Unter den Grün- 
den, die zur Schaffung der modernen Verfassungs- 
urkunden geführt haben, ist zunächst ganz allgemein 
die Wertschätzung und Bedeutung hervorzuheben, 
die man zu allen Zeiten der Verbriefung von 
Rechten beigelegt hat. Ein zweites Moment, das 
in den Zeitverhältnissen lag, trat hinzu. Bei der 
ersten Bildung der modernen Verfassungen stand 
man vor der Tatsache oder doch unter dem Ein- 
druck, daß es sich um die fundamentale Neu- 
schaffung des gesamten Staats handle, dessen 
naturgemäße Gestalt die rationale Betrachtung in 
sostematischer Kritik bloßgelegt habe und die nun 
zu fixieren sei. Damit war der Ubergang von 
einzelnen Freiheilsbriefen zu nach Vollständigkeit 
Staatsverfassung. 
  
80 
des Systems strebenden Verfassungsurkunden von 
selbst gegeben. 
Die schriftliche Fixierung der materiellen Ver- 
fassungsrechtssätze in einer Verfassungsurkunde ist 
in ihrer Bedeutung für die Sicherung der Ver- 
fassungsgarantien nicht gering anzuschlagen, wenn 
sie auch selbstverständlich kein Allheilmittel zur 
Sicherung der rechtlichen Freiheit der Staats- 
bürger, besonders in Zeiten ist, wo in einem Staat 
alles wankt. Die schriftliche Fixierung der Ver- 
fassungssätze in einer Verfassungsurkunde ver- 
körpert sichtbar den Gedanken der Unantastbarkeit 
der Verfassungsgarantien seitens der Regierungs- 
gewalt, den Gedanken der Unabänderlichkeit ohne 
Vereinbarung sowie der rechtlichen Ungültigkeit 
verfassungswidriger Staatshandlungen. Die 
eigenartigen englischen Verfassungsverhältnisse be- 
weisen nichts gegen diese Wertung der Verfassungs- 
urkunden, denn die englischen Verhältnisse sind 
aus einem ganzen Komplex geschichtlicher Bedin- 
gungen heraus zu würdigen. (Zur englischen Ver- 
fassung vgl. neuestens: Hatschek, Englisches Staats- 
recht [2 Bde, 1905/061; Sidney Low, The Go- 
vernance of England ([Lond. 1904]; deutsch 
von J. Hoops [1908)].) 
Es ist nicht der Zweck der schriftlichen Fixierung 
der Verfassungssätze, diesen eine absolute Starr- 
heit für alle Zeiten zu wahren; wohl aber soll 
durch das formale Herausheben der Verfassungs- 
sätze in einer Verfassungsurkunde diesen zunächst 
schon eine gewisse moralische Verstärkung ihrer 
Stabilität, ein moralischer Schutz gegenüber will- 
kürlichen Veränderungen gegeben werden. Die 
meisten konstitutionellen Staaten haben außerdem 
die Stabilität ihrer Verfassungen auch rechtlich zu 
verstärken gesucht, indem sie gegenüber der ein- 
fachen Gesetzgebung für Verfassungsänderungen 
erschwerende und retardierende Formen bestimmen. 
Es kommen vor allem die verschiedensten Arten 
vor: Erfordernis einer größeren als der einfachen 
Majorität; wiederholte Abstimmungen in be- 
stimmten Zwischenräumen, direkte Volksabstim- 
mungen, Auflösung der Kammern und so noch- 
malige Befragung der Wähler. 
So verlangen die Verfassungen Bayerns 
(Tit. 10, § 7), Sachsens (§ 152), Badens (864, 
74) Zweidrittelmajorität bei Anwesenheit von drei 
Viertel der Mitglieder in beiden Kammern; 
Württemberg (§ 176) Zweidrittelmehrheit bei ge- 
wöhnlicher Präsenz; Preußen begnügt sich mit 
einfacher Mehrheit, fordert aber — Verfassungs- 
urkunde Art. 107 — zwei Abstimmungen in 
beiden Häusern des Landtags, zwischen denen ein 
Zeitraum von wenigstens 21 Tagen liegen muß. 
Bei dem Deutschen Reich genügt im Reichstag 
einfache Majorität; das hemmende Moment liegt 
beim Bundesrat (Art. 78), wonach Verfassungs- 
änderungen als abgelehnt gelten, wenn sie im 
Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben. 
Gewiß können in aufgeregten Zeiten auch diese 
retardierenden Bestimmungen der Verfassungs-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.