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barkeit der Staatsgewalt noch die monarchische
Grundstruktur des deutschen Konstitutionalismus.
Organisatorische Verteilung der staatlichen Grund-
sunktionen ist nicht Zerreißung der Staatsgewalt.)
Gerade die preußische Verfassungsurkunde ist
der beste Beleg dafür, daß man die Verfassungen
nach der Eigenart der heimischen Rechte und dem
ganzen geschichtlichen und rechtlichen Tatbestand
prüfen und auffassen muß, mögen auch mancherlei
fremde Rechtsgedanken in der Verfassung rezipiert
sein. Auf der andern Seite darf bei Erklärung
der Verfassung dem klaren Wortlaut der Verfas-
sungsgarantien nicht Eintrag getan werden aus
juristischen theoretischen Konstruktionen heraus.
(Ein Beispiel hierfür bietet die Auffassung von
der Tragweite des Budgetrechts des deutschen
Reichstags, wie sie Laband entgegen dem Wort-
laut der Reichsverfassung und entgegen der Praxis
des Reichsstaatslebens konstruiert; vgl. A. Ott,
Das Budgetrecht des deutschen Reichstags, in
Frankfurter zeitgemäße Broschüren XXI (19021
105,/111)
Was den Inhalt der Verfassungsurkunden
angeht, so liegt diesen zwar im allgemeinen die
Tendenz unter, die grundlegenden Verfassungs-
rechtssätze in einer gewissen systematisierenden
Vollständigkeit zu bringen. Aber selbst von diesen
grundlegenden Verfassungsbestimmungen fehlen
in den einzelnen Verfassungsurkunden manche.
Auf der andern Seite regeln die Verfassungen
oft Dinge, die an sich weniger wichtig erscheinen
oder doch gewöhnlich als Gegenstand der einfachen
Gesetzgebung betrachtet werden.
Eine Sonderart in Bezug auf ihren Inhalt
bieten die Verfassungen einzelner Staaten der
Nordamerikanischen Union, die zu kleinen Gesetz-
büchern herangewachsen sind. Es hängt dies zu-
sammen mit dem Umstand, daß dort eine Reihe
von Gegenständen der einfachen Gesetzgebung ent-
zogen und der erschwerenden Verfassungsgesetz-
gebung überwiesen sind; es geschah dies zum Zweck
der Rechtssicherheit und der Stabilität der Gesetze
aus Gründen, die in den dortigen Verhältnissen
liegen (ogl. Jellinek, Allgem. Staatslehre:
(1905)] 519/520).
4. Zweckund Aufgabe der modernen
Verfassungsurkunden. Unter den Grün-
den, die zur Schaffung der modernen Verfassungs-
urkunden geführt haben, ist zunächst ganz allgemein
die Wertschätzung und Bedeutung hervorzuheben,
die man zu allen Zeiten der Verbriefung von
Rechten beigelegt hat. Ein zweites Moment, das
in den Zeitverhältnissen lag, trat hinzu. Bei der
ersten Bildung der modernen Verfassungen stand
man vor der Tatsache oder doch unter dem Ein-
druck, daß es sich um die fundamentale Neu-
schaffung des gesamten Staats handle, dessen
naturgemäße Gestalt die rationale Betrachtung in
sostematischer Kritik bloßgelegt habe und die nun
zu fixieren sei. Damit war der Ubergang von
einzelnen Freiheilsbriefen zu nach Vollständigkeit
Staatsverfassung.
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des Systems strebenden Verfassungsurkunden von
selbst gegeben.
Die schriftliche Fixierung der materiellen Ver-
fassungsrechtssätze in einer Verfassungsurkunde ist
in ihrer Bedeutung für die Sicherung der Ver-
fassungsgarantien nicht gering anzuschlagen, wenn
sie auch selbstverständlich kein Allheilmittel zur
Sicherung der rechtlichen Freiheit der Staats-
bürger, besonders in Zeiten ist, wo in einem Staat
alles wankt. Die schriftliche Fixierung der Ver-
fassungssätze in einer Verfassungsurkunde ver-
körpert sichtbar den Gedanken der Unantastbarkeit
der Verfassungsgarantien seitens der Regierungs-
gewalt, den Gedanken der Unabänderlichkeit ohne
Vereinbarung sowie der rechtlichen Ungültigkeit
verfassungswidriger Staatshandlungen. Die
eigenartigen englischen Verfassungsverhältnisse be-
weisen nichts gegen diese Wertung der Verfassungs-
urkunden, denn die englischen Verhältnisse sind
aus einem ganzen Komplex geschichtlicher Bedin-
gungen heraus zu würdigen. (Zur englischen Ver-
fassung vgl. neuestens: Hatschek, Englisches Staats-
recht [2 Bde, 1905/061; Sidney Low, The Go-
vernance of England ([Lond. 1904]; deutsch
von J. Hoops [1908)].)
Es ist nicht der Zweck der schriftlichen Fixierung
der Verfassungssätze, diesen eine absolute Starr-
heit für alle Zeiten zu wahren; wohl aber soll
durch das formale Herausheben der Verfassungs-
sätze in einer Verfassungsurkunde diesen zunächst
schon eine gewisse moralische Verstärkung ihrer
Stabilität, ein moralischer Schutz gegenüber will-
kürlichen Veränderungen gegeben werden. Die
meisten konstitutionellen Staaten haben außerdem
die Stabilität ihrer Verfassungen auch rechtlich zu
verstärken gesucht, indem sie gegenüber der ein-
fachen Gesetzgebung für Verfassungsänderungen
erschwerende und retardierende Formen bestimmen.
Es kommen vor allem die verschiedensten Arten
vor: Erfordernis einer größeren als der einfachen
Majorität; wiederholte Abstimmungen in be-
stimmten Zwischenräumen, direkte Volksabstim-
mungen, Auflösung der Kammern und so noch-
malige Befragung der Wähler.
So verlangen die Verfassungen Bayerns
(Tit. 10, § 7), Sachsens (§ 152), Badens (864,
74) Zweidrittelmajorität bei Anwesenheit von drei
Viertel der Mitglieder in beiden Kammern;
Württemberg (§ 176) Zweidrittelmehrheit bei ge-
wöhnlicher Präsenz; Preußen begnügt sich mit
einfacher Mehrheit, fordert aber — Verfassungs-
urkunde Art. 107 — zwei Abstimmungen in
beiden Häusern des Landtags, zwischen denen ein
Zeitraum von wenigstens 21 Tagen liegen muß.
Bei dem Deutschen Reich genügt im Reichstag
einfache Majorität; das hemmende Moment liegt
beim Bundesrat (Art. 78), wonach Verfassungs-
änderungen als abgelehnt gelten, wenn sie im
Bundesrat 14 Stimmen gegen sich haben.
Gewiß können in aufgeregten Zeiten auch diese
retardierenden Bestimmungen der Verfassungs-