Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

969 
ab. Deshalb besteht in keinem Kulturstaat voll- 
ständige Unierrichtsfreiheit. Uberall wird die Be- 
rechtigung zur Unterrichtserteilung durch den 
Nachweis der Befähigung dazu erworben. Nicht 
allein in wissenschaftlicher und technischer Be- 
ziehung muß der Lehrer bestimmte Qualitäten 
besitzen, er muß vor allem ein sittlicher Charakter 
sein, denn die Erziehung ist die Hauptaufgabe der 
Schule. In früheren Zeiten und in manchen 
Ländern auch jetzt noch wird die Befähigung durch 
ein Examen dargetan. Eine Prüfung allein ver- 
mag aber nicht genügenden Aufschluß über die 
Person des Prüflings zu geben. Deshalb ent- 
standen überall besondere Anstalten für die Vor- 
bildung des Lehrers, sobald die Anforderungen an 
den Lehrer höhere wurden. Diese Anstalten heißen 
in Deutschland. Osterreich, England und andern 
Ländern Seminare, in den romanischen Ländern 
meist Normalschulen. Die Lehrerbildungsanstalten 
sind verhältnismäßig jungen Ursprungs. Die erste 
selbständige Einrichtung dieser Art in Deutschland 
verdanken wir Francke (1663/1727), der beiseinem 
Waisenhaus in Halle ein seminarium praecep- 
torum errichtete. Allerdings war es nur für junge 
Theologen bestimmt, die dann drei Jahre an seinen 
Schulen unterrichten mußten. Ahnliche Anfänge 
machte man in Wesel (1687), Königsberg (1701), 
Stettin (1732). Doch waren dies Veranstal- 
tungen nebensächlicher Art. Hecker bildete zuerst 
in größerem Maßstab junge Leute für den Lehrer- 
beruf vor. Sein 1748 in Berlin errichtetes Schul- 
lehrerseminar wurde 1753 zum Königlichen kur- 
märkischen Landesseminar erhoben. 1765 gründete 
der Saganer Abt Ignaz v. Felbiger (1724/88) 
die Lehrerseminare Breslau, Leubus, Grüssau und 
Rauden. 1774 wurde er nach Osterreich berufen 
und sorgte auch dort für die Errichtung von 
Lehrerbildungsanstalten. Gegenwärtig ist das 
deutsche Seminarwesen das am besten organisierte 
der Welt. Dem Eintritt in das Seminar geht in 
der Regel der Besuch einer Präparandenanstalt 
voraus. Doch besteht dafür keine bindende Ver- 
pflichtung. Nach den Lehrplänen für die preußi- 
schen Seminare und Präparandenanstalten vom 
1. Juli 1901 werden diese beiden Lehrerbildungs- 
anstalten in engen Zusammenhang gebracht. Wie 
die Präparandenanstalt auf der Grundlage des in 
der Volksschule vermittelten Wissens die allgemeine 
Bildung der Zöglinge weiter führt, so setzt das 
Seminar die nach dem Lehrplan der Präparanden= 
anstalten vermittelten Kenntnisse voraus, bringt 
die allgemeine Bildung zum Abschluß und sorgt 
für die zur Verwaltung eines Volksschulamts er- 
sorderliche Fachbildung. Die allgemeine Bildung 
erstreckt sich auf alle in der Volksschule gelehrten 
Unterrichtsfächer. Dazu kommen die Mathematik, 
die französische oder englische Sprache, landwirt- 
schaftlicher Unterricht und ein ausgedehnter Unter- 
richt in verschiedenen Zweigen der Musik. Wo 
bisher fakultativer Unterricht in der lateinischen 
Sprache erteilt wurde, ist er beibehalten. Die 
  
Volksschulen. 
  
970 
Fachbildung ist Sache des Seminars. Sie besteht 
in dem Unterricht in der Pädagogik und ihren 
Hilfswissenschaften Psychologie und Logik; ein 
besonderer Unterricht in der Ethik wird nicht er- 
teilt, dagegen wird die Geschichte der Pädagogik 
ausreichend berücksichtigt. Dazu kommen Unter- 
weisungen in der Schulkunde und der Methodik 
der einzelnen Unterrichtsfächer. Das auf diese 
Weise gewonnene Wissen soll sich durch praktischen 
Unterricht in der mit dem Seminar verbundenen 
Übungsschule in sicheres Können umsetzen. Muster- 
lektionen der Seminarlehrer geben Anleitung zum 
Unterrichten. Der Abschluß der Seminarbildung 
erfolgt durch eine Prüfung, an welcher auch solche 
Prüflinge teilnehmen können, die ihre Vorbildung 
nicht in einem Seminar erhalten haben. Zur 
Prüfungskommission gehört außer den Vertretern 
des Staats an katholischen Anstalten auch ein 
bischöflicher Kommissar. Das Bestehen der Prü- 
sung gibt die Berechtigung zum Militärdienst als 
Einjährig-Freiwilliger. Der Prüfling erhält ein 
Zeugnis, das ihn zur provisorischen Anstellung 
an einer Volksschule befähigt. Nach frühestens 
zwei, spätestens fünf Jahren hat der provisorisch 
angestellte Lehrer eine zweite Prüfung abzulegen. 
Diese erstreckt sich außer auf die Pädagogik und 
Schulkunde nur auf einzelne Wissensgebiete, die 
der Prüfling wählt; der junge Lehrer soll seine 
Bildung mehr in die Tiefe als in die Breite aus- 
dehnen. Inzwischen ist die Praxis der zweiten 
Lehrerprüfung ebenso wie der Seminarlehrplan 
vielfach für reformbedürftig erklärt worden. Ahn- 
lich ist das Lehrerbildungswesen in fast allen deut- 
schen Staaten geordnet. In Bayern erfolgt die 
Vorbildung für das Seminar entweder auf einer 
Präparandenschule oder durch Besuch einer Latein- 
oder Realschule. Private Vorbereitung ist un- 
zulässig. Der Seminarkursus ist zweijährig. Die 
Seminarabiturienten (Schuldienstexspektanten) 
werden aber einem Lehrer überwiesen, unter dessen 
Leitung sie sich ein Jahr lang in der Schulpraxis 
zu üben haben. Während dieser Zeit erhalten sie 
im Bedürfnisfall Unterstützungen. Am Ende des 
Jahres haben sie sich einer Prüfung zu unter- 
ziehen, durch welche sie Hilfslehrer werden und die 
Befähigung zur Verwaltung einer Schulklasse er- 
halten. Sie sind dann zu vierjährigem Besuch der 
Fortbildungskurse und nach Absolvierung derselben 
zur Ablegung der Anstellungsprüfung verpflichtet. 
Diese Prüfung erstreckt sich auf alle Fächer. Sachsen 
besitzt nicht zweigeteilte Lehrerbildungsanstalten, 
sondern sechsklassige Seminare. In Osterreich sind 
die Seminare vierklassig. Ihre Einrichtung ist der 
in Preußen ähnlich. Das Reifezeugnis berechtigt 
nur zur Anstellung als provisorischer Unterlehrer. 
Die Lehrbefähigungsprüfung, durch welche die 
Befähigung zur definitiven Anstellung erworben 
wird, kann für Volks= oder für Bürgerschulen ab- 
gelegt werden. In England ist die Anstellung als 
Lehrer nach dem Gesetz vom 9. Aug. 1870 nicht 
durch die Vorbildung im Seminar bedingt. Jeder-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.