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Reichskanzler verlangen. Bis zur Ungültigkeits-
erklärung seiner Wahl hat der Gewählte Sitz und
Stimme im Reichstag. Abgeordnete, deren Wahl
beanstandet wird, dürfen bei Abstimmung über
dieselbe nicht mitstimmen. Wohl aber dürfen sie
vorher Aufklärung geben über alle ihnen zur Be-
urteilung der Wahl nötig erscheinenden Tatsachen.
Die Zusammensetzung des Reichstags und das
immer stärkere Anwachsen des demokratischen Ele-
ments lassen den Ruf gewisser Parteien nach einer
Anderung des Reichstagswahlrechts
immer lauter werden. Da greift man vor allem
die Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts
an. Die Wähler seien nicht alle gleich und gleich-
wertig. Die durch Bildung und Besitz hervor-
ragenden ständen höher als die breitflutenden
Massen des Volks. Außerdem hätten sie ja auch
viel mehr Pflichten gegen den Staat, denen auf
der andern Seite auch größere Rechte entsprechen
müßten. Dementsprechend müsse das Stimmrecht
beschränkt, individualisiert und abgestuft werden.
Das allgemeine, gleiche Wahlrecht ist jedoch nichts
anderes als eine Art Korrelat der allgemeinen
Staatsbürgerpflichten, die politische Gleichberech-
tigung aller Bürger eine Art Konsequenz der Be-
rufung aller zum Staatsdienst. Der Unbegüterte
unterliegt geradeso gut wie der Begüterte der all-
gemeinen Wehrpflicht; die indirekten Steuern
treffen ihn geradeso und vielleicht noch mehr wie
den andern; am allgemeinen Volkswohl arbeitet
er geradeso gut zu seinem Teil mit wie der Be-
sitzende, unter Umständen vielleicht noch entsprechend
mehr. Anderseits dürfte aber doch auch der Unter-
tan um so mehr zum Staatsaufwand beizutragen
haben, je reicher und ergiebiger das Vermögen ist,
dessen Besitz und Genuß ihm der Staat gewähr-
leistet. Dazu kommt, daß der Besitzer eines größeren
Vermögens einen viel größeren und ausgiebigeren
Gebrauch von den öffentlichen Einrichtungen macht;
ferner, daß größerer Besitz und höhere Bildung so
wie so schon einen gewissen Einfluß auf weitere
Personenkreise verleiht. Die Anschauung, daß
Bildung und Besitz ein erhöhtes Wahlrecht ver-
leihe, beruht auf ganz falschen, unhaltbaren Grund-
lagen, und mit Recht meinte Windthorst gegen-
über der einseitigen Betonung des Besitzes, daß
das Geld das „destruktivste Element der Welt“
sei, und daß der Versuch, das allgemeine Wahl-
recht durch den Geldbeutel zu korrigieren, der aller-
bedenklichste sei, den man machen könne. Dem
Vorhalt gegenüber, daß das allgemeine, gleiche
Wahlrecht das Eindringen der Sozialdemokratie
in den Reichslag ermöglicht habe, ist entgegenzu-
halten, man müsse es doch jedenfalls als erwünschter
erachten, wenn die in den breiten Massen der
Bevölkerung vorhandenen Anschauungen eine
ordnungsgemäße, eine gewisse Verantwortung
auferlegende Vertretung fänden, als wenn diese
lediglich durch eine außerparlamentarische Agi-
tation oder gar in geheimen Konventikeln zum
Ausdruck gelangten. Nichts sei zudem geeigneter,
Wahlrecht.
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den Regierenden wie den sozial besser gestellten
Schichten mit Bezug auf ihre sozialen Pflichten
gegen die weniger Begüterten das Gewissen zu
schärfen, als die Notwendigkeit, mit der Vertretung
derselben in den gesetzgebenden Körperschaften
rechnen zu müssen. Mit Recht sagt Georg Meyer
(Parlamentarisches Wahlrecht S. 420): „Nur
eine Beteiligung der arbeitenden Klassen an den
politischen Rechten ist geeignet, einen ruhigen und
friedlichen Verlauf der staatlichen Entwicklung zu
sichern. Sie befördert nicht den Umsturz, sondern
verhütet ihn. Wir haben heutzutag in Deutsch-
land eine starke sozialdemokratische Bewegung.
Aber würde dieselbe nicht vorhanden sein, wenn
das allgemeine Stimmrecht nicht bestände?“
Was die geheime Wahl betrifft, so ist an und
für sich rein theoretisch ja vielleicht der öffentlichen
Wahl der Vorzug zu geben, in der Praxis jedoch
muß man die Menschen nehmen, wie sie sind.
Man denke doch nur an die Wahlbeeinflussungen
und Wahlbedrückungen, wie sie besonders in den
Industriebezirken vielfach notorisch sind. Die ge-
heime Wahl kann daher nicht genug Sicherung
erfahren. Soll der Reichstag verfassungsgemäß
eine Vertretung des gesamten deutschen Volks sein,
so muß auch allen Kreisen die Möglichkeit gewähr-
leistet sein, nach freier Uberzeugung stimmen zu
können. Darum ist besonders auch im Interesse
des kleinen, wirtschaftlich abhängigen Mannes die
geheime Wahl stets zu fordern.
Um den früheren Mißständen bezüglich des
Fehlens der Abgeordneten sowie ihrer Kräftezer-
splitterung durch zu viele Doppelmandate und der
hierdurch bewirkten Schädigung in der Geschäfts-
führung des Reichstags zu steuern, wurden 1906
(Gesetz vom 21. Mai) für die Reichstagsabgeord-
neten Diäten bzw. Anwesenheitsgelder
eingeführt. Dieselben erhalten infolgedessen neben
freier Eisenbahnfahrt im ganzen Reich jährlich
eine Aufwandsentschädigung von 3000 M. Da-
von kommen für jeden Tag, an dem ein Abgeord-
neter bei der Plenarsitzung fehlt, 20 A in Abzug.
Überhaupt ist allen Angriffen auf das Reichs-
tagswahlrecht, selbst von allen grundsätzlichen Er-
wägungen ganz abgesehen, immer das, worauf
auch Windthorst schon seinerzeit hingewiesen hat,
entgegenzuhalten, daß das einmal eingeführte und
seit Jahrzehnten in Geltung befindliche Wahlrecht
ohne Gefahr für das Gemeinwohl nicht beseitigt
werden kann, am wenigsten auf dem Weg des
Staatsstreichs. Dasselbe gehört zu den verfas-
sungsmäßigen Grundlagen des gesamten öffent-
lichen Lebens; seine Aufhebung würde als eine
Herausforderung der aus die Wahrung ihrer poli-
tischen Rechte eifrig bedachten Arbeiterbevölkerung
wirken, eine tiefgehende Verbitterung erzeugen und
die Staatsmaschinerie eines Sicherheitsventils be-
rauben.
In Preußen beruht das Wahlrecht auf der
Verfassungsurkunde vom 31. Jan. 1850, die
wiederholt modifiziert wurde, zuletzt durch das