Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Reichskanzler verlangen. Bis zur Ungültigkeits- 
erklärung seiner Wahl hat der Gewählte Sitz und 
Stimme im Reichstag. Abgeordnete, deren Wahl 
beanstandet wird, dürfen bei Abstimmung über 
dieselbe nicht mitstimmen. Wohl aber dürfen sie 
vorher Aufklärung geben über alle ihnen zur Be- 
urteilung der Wahl nötig erscheinenden Tatsachen. 
Die Zusammensetzung des Reichstags und das 
immer stärkere Anwachsen des demokratischen Ele- 
ments lassen den Ruf gewisser Parteien nach einer 
Anderung des Reichstagswahlrechts 
immer lauter werden. Da greift man vor allem 
die Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts 
an. Die Wähler seien nicht alle gleich und gleich- 
wertig. Die durch Bildung und Besitz hervor- 
ragenden ständen höher als die breitflutenden 
Massen des Volks. Außerdem hätten sie ja auch 
viel mehr Pflichten gegen den Staat, denen auf 
der andern Seite auch größere Rechte entsprechen 
müßten. Dementsprechend müsse das Stimmrecht 
beschränkt, individualisiert und abgestuft werden. 
Das allgemeine, gleiche Wahlrecht ist jedoch nichts 
anderes als eine Art Korrelat der allgemeinen 
Staatsbürgerpflichten, die politische Gleichberech- 
tigung aller Bürger eine Art Konsequenz der Be- 
rufung aller zum Staatsdienst. Der Unbegüterte 
unterliegt geradeso gut wie der Begüterte der all- 
gemeinen Wehrpflicht; die indirekten Steuern 
treffen ihn geradeso und vielleicht noch mehr wie 
den andern; am allgemeinen Volkswohl arbeitet 
er geradeso gut zu seinem Teil mit wie der Be- 
sitzende, unter Umständen vielleicht noch entsprechend 
mehr. Anderseits dürfte aber doch auch der Unter- 
tan um so mehr zum Staatsaufwand beizutragen 
haben, je reicher und ergiebiger das Vermögen ist, 
dessen Besitz und Genuß ihm der Staat gewähr- 
leistet. Dazu kommt, daß der Besitzer eines größeren 
Vermögens einen viel größeren und ausgiebigeren 
Gebrauch von den öffentlichen Einrichtungen macht; 
ferner, daß größerer Besitz und höhere Bildung so 
wie so schon einen gewissen Einfluß auf weitere 
Personenkreise verleiht. Die Anschauung, daß 
Bildung und Besitz ein erhöhtes Wahlrecht ver- 
leihe, beruht auf ganz falschen, unhaltbaren Grund- 
lagen, und mit Recht meinte Windthorst gegen- 
über der einseitigen Betonung des Besitzes, daß 
das Geld das „destruktivste Element der Welt“ 
sei, und daß der Versuch, das allgemeine Wahl- 
recht durch den Geldbeutel zu korrigieren, der aller- 
bedenklichste sei, den man machen könne. Dem 
Vorhalt gegenüber, daß das allgemeine, gleiche 
Wahlrecht das Eindringen der Sozialdemokratie 
in den Reichslag ermöglicht habe, ist entgegenzu- 
halten, man müsse es doch jedenfalls als erwünschter 
erachten, wenn die in den breiten Massen der 
Bevölkerung vorhandenen Anschauungen eine 
ordnungsgemäße, eine gewisse Verantwortung 
auferlegende Vertretung fänden, als wenn diese 
lediglich durch eine außerparlamentarische Agi- 
tation oder gar in geheimen Konventikeln zum 
Ausdruck gelangten. Nichts sei zudem geeigneter, 
Wahlrecht. 
  
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den Regierenden wie den sozial besser gestellten 
Schichten mit Bezug auf ihre sozialen Pflichten 
gegen die weniger Begüterten das Gewissen zu 
schärfen, als die Notwendigkeit, mit der Vertretung 
derselben in den gesetzgebenden Körperschaften 
rechnen zu müssen. Mit Recht sagt Georg Meyer 
(Parlamentarisches Wahlrecht S. 420): „Nur 
eine Beteiligung der arbeitenden Klassen an den 
politischen Rechten ist geeignet, einen ruhigen und 
friedlichen Verlauf der staatlichen Entwicklung zu 
sichern. Sie befördert nicht den Umsturz, sondern 
verhütet ihn. Wir haben heutzutag in Deutsch- 
land eine starke sozialdemokratische Bewegung. 
Aber würde dieselbe nicht vorhanden sein, wenn 
das allgemeine Stimmrecht nicht bestände?“ 
Was die geheime Wahl betrifft, so ist an und 
für sich rein theoretisch ja vielleicht der öffentlichen 
Wahl der Vorzug zu geben, in der Praxis jedoch 
muß man die Menschen nehmen, wie sie sind. 
Man denke doch nur an die Wahlbeeinflussungen 
und Wahlbedrückungen, wie sie besonders in den 
Industriebezirken vielfach notorisch sind. Die ge- 
heime Wahl kann daher nicht genug Sicherung 
erfahren. Soll der Reichstag verfassungsgemäß 
eine Vertretung des gesamten deutschen Volks sein, 
so muß auch allen Kreisen die Möglichkeit gewähr- 
leistet sein, nach freier Uberzeugung stimmen zu 
können. Darum ist besonders auch im Interesse 
des kleinen, wirtschaftlich abhängigen Mannes die 
geheime Wahl stets zu fordern. 
Um den früheren Mißständen bezüglich des 
Fehlens der Abgeordneten sowie ihrer Kräftezer- 
splitterung durch zu viele Doppelmandate und der 
hierdurch bewirkten Schädigung in der Geschäfts- 
führung des Reichstags zu steuern, wurden 1906 
(Gesetz vom 21. Mai) für die Reichstagsabgeord- 
neten Diäten bzw. Anwesenheitsgelder 
eingeführt. Dieselben erhalten infolgedessen neben 
freier Eisenbahnfahrt im ganzen Reich jährlich 
eine Aufwandsentschädigung von 3000 M. Da- 
von kommen für jeden Tag, an dem ein Abgeord- 
neter bei der Plenarsitzung fehlt, 20 A in Abzug. 
Überhaupt ist allen Angriffen auf das Reichs- 
tagswahlrecht, selbst von allen grundsätzlichen Er- 
wägungen ganz abgesehen, immer das, worauf 
auch Windthorst schon seinerzeit hingewiesen hat, 
entgegenzuhalten, daß das einmal eingeführte und 
seit Jahrzehnten in Geltung befindliche Wahlrecht 
ohne Gefahr für das Gemeinwohl nicht beseitigt 
werden kann, am wenigsten auf dem Weg des 
Staatsstreichs. Dasselbe gehört zu den verfas- 
sungsmäßigen Grundlagen des gesamten öffent- 
lichen Lebens; seine Aufhebung würde als eine 
Herausforderung der aus die Wahrung ihrer poli- 
tischen Rechte eifrig bedachten Arbeiterbevölkerung 
wirken, eine tiefgehende Verbitterung erzeugen und 
die Staatsmaschinerie eines Sicherheitsventils be- 
rauben. 
In Preußen beruht das Wahlrecht auf der 
Verfassungsurkunde vom 31. Jan. 1850, die 
wiederholt modifiziert wurde, zuletzt durch das
	        
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