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herrschaft heraus und in Gegensatz zu ihr trat.
Nach mittelalterlich deutschem Stadtrecht durften
Bauplätze niemals der Bebauung entzogen werden.
Lag eine Baustelle durch Brand, Zerstörung oder
nach dem Willen des Eigentümers wüst, so wurde
sie von der Obrigkeit mit Bauverpflichtung ver-
kauft und vielfach das Baumaterial, besonders
Holz dazu geliefert; der Städtebau war vielfach
obrigkeitlich geregelt. Der fürstliche Abso-
lutismus hat dann besonders auch in Preußen
nach den Grundsätzen des Merkantilismus die
obrigkeitliche Reglung des Städtebaues weiter ge-
führt, ebenso das Recht der Offentlichkeit auf un-
bebaute Baustellen. Die Aufteilung des Bodens
in Straßen und Baublöcke wurde obrigkeitlich
geregelt in schematischer Weise mit Lineal und
Zirkel,. mit rechteckigen Baublöcken und Beseiligung
des Unterschieds zwischen Verkehrs= und Wohn-
straßen. Gleichzeitig wurde aus Frankreich das
breite, mehrgeschossige Stockwerk-(Etagen-hhaus
übernommen, aus dem in Verbindung mit den
großen Baublöcken und den übermäßig breiten
Straßen Mitte des 19. Jahrh. die Mietkaserne
entstand. Erst unter der Herrschaft des wirt-
schaftlichen Liberalismus wurden mit der
Lehre vom freien Spiel der Kräfte, das die beste
aller Welten bringen werde, Städtebau und Woh-
nungswesen sich selbst überlassen.
Auf dieser Grundlage, unterstützt durch die ge-
waltige Vermehrung und fortschreitende Indu-
strialisierung des deutschen Volks und durch das
Wachstum der Städte seit 1870 ist die moderne
Wohnungsfrage in#tstanden. Sie kennzeichnet
sich durch folgende Tatsachen: Je engräumiger und
von der Natur abgelöster das Wohnwesen, desto
geringer ist die Wehrfähigkeit der Bewohner; am
ungünstigsten ist die Rekrutierungsziffer von Ber-
lin und Hamburg mit nur 39 und 42% des
Normalsolls, während Lippe und die ostelbischen
Gebiete ihr Soll überschreiten. Maßstab des
Wohnungsmarkts, der an der Wellen-
bewegung der wirtschaftlichen Gesamtlage teil-
nimmt, ist die Zahl der leerstehenden Wohnungen;
die Marktllage ist erfahrungsgemäß normal, wenn
diese Ziffer 3 % der brauchbaren Wohnungen ist.
Die Wohndichtigkeit, die Zahl der Per-
sonen auf ein heizbares Zimmer ist um so größer,
je kleiner und schlechter die Wohnung ist, je höher
oder tiefer sie im Hause liegt. Die Engräumig-
keit der Wohnungen kennzeichnet die Lebensver-
hältnisse des weitaus größten Teils der städtischen
und besonders großstädtischen Bevölkerung. Diese
lebt zur Hälfte und oft noch mehr in Wohnungen
von 1 bis 2 nicht immer heizbaren Zimmern; in
Berlin leben 40 % in einrdumigen, 33 % in zwei-
räumigen Wohnungen, in Hamburg 16 bzw.
30 %, in Straßburg 4bzw. 32 %. Als überfüllt
gilt ein Zimmer, welches mehr als 3 oder 4 Per-
sonen zum Wohnen dient. Der jährliche Miet-
wechsel ist um so stärker, je kleiner die Wohnungen
sind. Der Bau von Wohnungen für die Minder-
Wohnungsfrage.
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bemittelten (etwa 85% der städtischen Bevölke-
rung) bleibt vielfach hinter dem Bedürfnis zurück.
Das bestätigen fast alle Berichte der Gewerbe= und
Wohnungsinspektoren. Die Ausgaben einer Haus-
haltung für Wohnung im Verhältnis zu ihrem
Einkommen ist um so größer, je kleiner deren Ein-
kommen ist (das Schwabesche Gesetz). Der Miet-
preis für den Kubikmeter Wohnraum ist um so
höher, je kleiner und meist auch, je schlechter die
Wohnung ist. Das haben alle Untersuchungen
gezeigt. Die amtliche Augsburger Untersuchung
von 1904 z. B. ergab als Preis für den Kubik-
meter bei Wohnungen mit 1 Raum 2,57 M,
2 Räumen 2,35 M, 3 Räumen 2,24 M, 4 Räu-
men 2,17 M, 5 Räumen 2.17 M, 7 Räumen
2,26 M, 10 Räumen 2,13 M, 13 Räumen 1.57 M.
Für eine Familie ist es daher vorteilhafter, eine
größere Wohnung zu mieten und einzelne Räume
in Untervermietung weiterzugeben, weil sie dadurch
sich selbst größeren und billigeren Wohnraum ver-
schafft. Der Zuschuß der Miete, den der Woh-
nungsinhaber durch solches Weitervermieten erhält,
beträgt meist 20—40, mitunter bis zu 50 % der
Miete. Die Zahl der Aftermieter und Schlaf-
gänger schwankt in den Industrie= und Handels-
städten Deutschlands von 4—10 %, geht aber
in Städten mit starker Garnison und Hochschule
bis auf 12—15% . Das enge Zusammenleben
mit vielen unseßhaften Persönlichkeiten von manch-
mal schlechter und jedenfalls unkontrollierbarer
Moral vermehrt die sittlichen Gefahren, die das
enge Zusammenleben schon bringt, besonders geht
das Schamgefühl verloren, sittliche und physische
Entartung ist die Folge. Auch das Kostgänger-
wesen ist ein Krebsschaden des Arbeiterstands.
Die Mitpreise haben in den Städten meist
eine steigende Tendenz. Die Folge ist das eherne
Wohngesetz: der Mieter erhält für die höchst mög-
lichste Mietleistung, die ihm abgenommen werden
kann, nur das Mindestmaß, das Existenzminimum,
im Wohnbedürfnis. Die Tuberkulose ist in
erster Linie eine Wohnungskrankheit, steht daher
in geradem Verhältnis zur Wohndichtigkeit, d. h.
zur Engräumigkeit und Zusammendrängung der
Menschen in den Wohnungen. Krankheit und
Sterblichkeit sind in der mittleren Lage der Hüe
am geringsten; sie wachsen 1) in dem Maß, als
die Wohnung kleiner und damit auch enger und
schlechter wird, 2) in dem Maß, als die Wohnung
sich von der Mitte des Hauses nach oben (Dach-
wohnungen) und unten (Kellerwohnungen) ent-
fernt. Die Sterblichkeit ist in Berlin in Woh-
nungen von 1 Zimmer: 1683.5, 2 Zimmer 22,5,
3 Zimmer 7.5, 4 Zimmer 5.4, im Durchschnitt
20, 1% 0. Die Wirkung freien Zutritts von Luft
und Sonne zeigen die Wohnungen, die von der
Stadt Ulm gebaut wurden; trotzdem sie mit sehr
kinderreichen Familien bevölkert sind, betrug 1902
die Sterblichkeit 12,2 0//% gegen 16,1 in der ganzen
Stadt. In Stuttgart haben zwei Bezirke eine
auffallend niedrige Sterbeziffer, der eine (an