Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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belegt wurde. Nur für den Handel wurde 1886 
das Zinsmaximum beseitigt. Die Geschichte der 
Beseitigung in den europäischen Staaten gibt 
Caro (S. 33 ff). Indessen sahen sich manche 
Staaten, zunächst Belgien (1867), genötigt, die 
Wucherfreiheit wieder zu beschränken. Die meisten 
Gesetzgebungen sahen jedoch von einem Zinsmaxi- 
mum ab und suchten dem Strafrichter durch mehr 
oder minder zutreffende Begriffsbestimmungen des 
Wuchers als einer Ausbeutung der Notlage, des 
Leichtsinns usw. eine Handhabe zu bieten. 
In Deutschland hatte im Jahr 1879 der Zen- 
trumsabgeordnete Peter Reichensperger 
einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Wieder- 
einführung eines Zinsmaximums anstrebte. Die 
Reichsregierung beschritt jedoch diesen Weg nicht, 
strebte vielmehr eine begriffliche Formulierung des 
Wuchers an in einem Gesetzentwurf, der am 
24. Mai die Annahme des Reichstags fand. 
Wucher wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten 
und mit Geldstrase bis zu 3000 M gestraft, wo- 
zu noch Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte 
kommen kann (8 302 a des St.G.B.). „Wer sich 
oder einem Dritten die wucherischen Vermögens- 
vorteile verschleiert oder wechselmäßig oder unter 
Verpfändung der Ehre, auf Ehrenwort, eidlich 
oder unter ähnlichen Versicherungen oder Beteu- 
rungen versprechen läßt, wird mit Gefängnis bis 
zu einem Jahr und zugleich mit Geldstrafe bis zu 
6000 ANl bestraft“ (§ 302b). Nach § 302c treffen 
dieselben Strafen auch denjenigen, der wissentlich 
wucherische Forderungen erwirbt und weiter ver- 
äußert oder geltend macht. § 302cM bestraft den 
gewerbs= oder gewohnheitsmäßigen Wucher mit 
Gefängnis nicht unter 3 Monaten und zugleich 
mit Geldstrafe von 150 bis 15,000 M. Durch 
Gesetz vom 19. Juni 1893 wurde die Wucher- 
freiheit wieder eingeschränkt, indem die Straf- 
bestimmungen der §§ 302 a/d auf alle wuche- 
rischen zweiseitigen Rechtsgeschäfte ausgedehnt 
wurden, die denselben wirtschaftlichen Zwecken 
dienen sollten wie ein Darlehen oder die Stun- 
dung einer Geldforderung. Allgemein bestimmt 
ferner das B.G.B. § 138, daß Rechtsgeschäfte, 
die gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig seien; 
insbesondere gilt dies von einem Rechtsgeschäft, 
durch das jemand unter Ausbeutung der Notlage, 
des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines an- 
dern sich oder einem Dritten Vermögensvorteile 
versprechen oder gewähren lasse, welche den Wert 
der Leistung dergestalt übersteigen, daß den Um- 
ständen nach die Vermögensvorteile in auffälligem 
Mißverhältnis zu der Leistung stehen. (Näheres 
über die neue deutsche Wuchergesetzgebung s. 
Lexis S. 918.) 
Man muß es der neueren deutschen Wucher- 
gesetzgebung nachrühmen, daß sie infolge der Mo- 
difikationen von 1893 die durchgreifendste von 
allen ist und den Wucher in allen seinen Erschei- 
nungsformen zu fassen sucht; die wichtigste Ver- 
besserung besteht darin, daß die strafrechtlichen 
Wucher und Zins. 
  
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Bestimmungen auf alle belastenden Verträge aus- 
gedehnt wurden. Da der schmählichste Wucher 
gerade bei kleinen Darlehen getrieben wird, ist es 
zu begrüßen, daß die einzelnen Landesgesetz- 
gebungen den Zins für die Pfanddarlehenssumme 
feststellten. 
Daß eine Pflicht des Staats besteht, dem 
Wucher einen Damm entgegenzusetzen, wird heute 
wohl nicht mehr bezweifelt. „Es entspricht ganz 
der Nebelhaftigkeit des Platonischen Wolkenstaats, 
wenn sein Erfinder sagt, die Wucherfrage berühre 
ihn nicht. Wo sich ein Staat mit dem wirklichen 
Leben einläßt, wird er nicht die Wahrheit des 
Aristotelischen Satzes verkennen, daß es ebenso 
notwendig für ihn wie in seinem eignen Interesse 
ist, sich mit diesen Fragen gründlich zu be- 
fassen“" (Weiß S. 789 f). Über die Gefähr- 
lichkeit des wucherischen Treibens herrscht vom 
Altertum bis auf die Gegenwart nur eine Stimme 
(s. Caro S. 137, 148). Es ist Pflicht des Staats, 
gerade die wirtschaftlich Schwachen zu schützen; 
der kleine Mann, der Handwerker, Arbeiter, ins- 
besondere der Bauer bedarf vor allem des Schutzes 
gegen seinen Bedränger (S. 163 ff). Mit Recht 
nennt Pesch (a. a. O. 418) die absolute Zins- 
freiheit des ökonomischen Mords und Selbst- 
mords. „Unbeschränkte Verkehrsfreiheit“, sagt 
der große Interpret des kapitalistischen römischen 
Rechis, v. Ihering, „ist ein Freibrief zur Er- 
pressung, ein Jagdpaß für Räuber und Piraten 
mit dem Recht der freien Pürsch auf alle, die in 
ihre Hände fallen — wehe dem Schlachtopfer! 
Daß die Wölfe nach Freiheit schreien, ist begreif- 
lich. Wenn aber die Schafe in ihr Geschrei ein- 
stimmen, so beweisen sie damit nur, daß sie eben 
Schafe sind“ (vgl. Caro S. 50). 
Daß durch die Strafgesetzgebung allein der 
Wucher nicht völlig ausgetilgt werden kann, ist 
gewiß. Wo das Streben nach lukrativem Erwerb 
die Gesellschaft befallen hat, ja zur Seele des 
Wirtschaftslebens geworden ist, wie dies der 
glänzendste Schilderer des Kapitalismus, Werner 
Sombart, gerade für die Gegenwart behauptet 
(Der moderne Kapitalismus passim), da wird der 
Wucher immer neue Wege finden, in neue Formen 
sich einhüllen, um unter dem Schein eines Rechts- 
geschäfts sein Opfer zu erwürgen. Wirksam be- 
kämpft wird dieser gesellschaftliche Vampir nur 
durch sittlich-religiöse Charakterbildung: der Ab- 
scheu gegen denselben muß ins allgemeine Bewußt- 
sein übergehen. Aber auch dann wird es nicht an 
solchen fehlen, welche dem öffentlichen Rechts- 
bewußtsein Trotz bieten. Darum muß auch der 
Staat mit seinen Zwangsmitteln einschreiten. 
Wenn man darauf hinweist, daß kein Wuchergesetz 
imstande sei, den Wucher völlig auszurotten, so 
kann ein solcher Einwand gegen jedes Gesetz gel- 
tend gemacht werden. Aber die Straflosigkeit des 
Wuchers steht in schneidendem Widerspruch zum 
Rechtsbewußtsein des Volks; die Möglichkeit der 
Umgehung eines Gesetzes ist noch kein Grund gegen
	        
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