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Strafausschließungsgrund aus dem Gesichtspunkt
der Unzurechnungsfähigkeit behandelt. Es wird
durchgängig so dargestellt, als trete hier die „straf-
rechtliche Unverantwortlichkeit der Kinder unter
12 Jahren in prozessualem Gewand“ auf, und
die andere Ansicht, wonach es sich nur um ein
prozessualisches Privileg für die Kinder handle,
sei als unrichtig zu verwerfen. Die Konsequenzen
sind natürlich verschieden, ob man der einen oder
andern Ansicht folgt, worauf schon in dem Art.
Strafrecht, Sp. 320 hingedeutet ist. Geht man
davon aus, daß das Gesetz eine materiell-rechtliche
Bestimmung habe treffen wollen, daß also eine
strafbare Handlung wegen Unzurechnungsfähigkeit
des Täters als ausgeschlossen gelten soll, dann
dürfen auch nicht Teilnahme, Anstiftung, Begünsti-
gung, Hehlerei bestraft werden (was doch geschehen
ist), weil keine strafbare Handlung vorliegt, in
Ansehung deren eine solche Teilnahme stattgehabt
haben könnte, es sei denn, daß die Handlung des
andern eine selbständige strafbare Tat bedeute.
Nach der zweiten Ansicht ist dagegen eine solche
Bestrafung zulässig. Was die Altersstufe von 12
bis 18 Jahren anlangt, so sagt das Gesetz, daß
ein Angeschuldigter, der in diesem Alter eine straf-
bare Handlung begangen habe, freizusprechen sei,
wenn er bei Begehung derselben die zur Erkennt-
nis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht
besaß. Hier ist also keinenfalls von der Unzurech-
nungsfähigkeit des Täters auszugehen, aber es
bedarf zu einer Verurteilung eines solchen eines
Mehr als bei andern, älteren Tätern. Es muß
noch „die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der be-
gangenen Tat erforderliche Einsicht“ besonders
festgestellt werden. Das Gesetz will damit nicht
verlangen, daß der Jugendliche in Wirklichkeit die
Strafbarkeit seiner Handlung erkannt habe oder
daß er in Wirklichkeit die Höhe der vom Gesetz
angedrohten Strafe gewußt habe; es verlangt
vielmehr nur, daß der Jugendliche die „Fähigkeit“
besessen, die Strafbarkeit der begangenen konkreten
Tat zu erkennen. Und das muß im Urteil fest-
gestellt werden. Kann diese Einsicht nicht festge-
stellt werden, so ist der Jugendliche aus diesem
Grund allein noch nicht unzurechnungsfähig im
Sinn des Gesetzes; eine strafbare Handlung liegt
deshalb doch vor, er ist aber freizusprechen, „nicht
weil ihm jegliche Zurechnungsfähigkeit, sondern
weil ihm die erforderliche Einsicht gefehlt hat“.
Ergeben sich begründete Zweisfel an der Zurech-
nungsfähigkeit als solcher, so muß selbstverständ-
lich, wie auch bei andern Tätern, Freisprechung
schon aus diesem Grund erfolgen, ohne daß noch
weiter nach der Einsicht besonders gefragt zu wer-
den braucht. — Das Gesagte gilt auch für Taub-
stumme.
5. Vergegenwärtigt man sich, daß nach dem
vorher aus § 51 des St.G.B. Mitgeteilten eine
strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn dem
Täter infolge von Bewußklosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistestätigkeit die freie Willens-
Zurechnungsfähigkeit.
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bestimmung gefehlt hat, so wird man zu der An-
sicht gelangen müssen, daß das Strafgesetzbuch das
Verbrechen als Erzeugnis einer freien Willens-
entschließung auffaßt, also davon ausgeht, daß
der Mensch mit Willensfreiheit ausgestattet ist,
daß die Richtung, die die Handlung nimmt, auf
der freien Wahl des Handelnden, der auch anders
hätte handeln können, beruht, kurz daß er mit
Willensfreiheit im metaphysischen Sinn (libertas
indifferentiae) begabt ist, und daß diese die
Grundlage und das Wesen der strafrechtlichen
Zurechnungsfähigkeit bildet. Das ist denn auch
zur Zeit noch die in der Wissenschaft herrschende
Ansicht, die Lehrmeinung der klassischen Schule
(ogl. d. Art. Strafe usw. Sp. 267). Sie gründet
sich formell auf den gebrauchten Ausdruck, der
nach natürlicher, ungezwungener Auslegung einen
andern Sinn nicht zuläßt und materiell auf die
bis in die neuere Zeit hinein nicht angefochtenen
Begriffe der strafrechtlichen Schuld und Strafe.
Einem Menschen eine verbrecherische Handlung,
also eine verbrecherische Willensäußerung zur
Schuld oder als schuldhaft zurechnen, heißt, ihm
den Vorwurf machen, daß er so, d. h. verbreche-
risch, und nicht anders gehandelt habe. Der
Begriff der Schuld setzt also das Vermögen freier
Willensbestimmung voraus; ohne Willensfreiheit
keine Schuld. Kann der Wille sich nicht frei be-
stimmen, dann ist es unmöglich, wegen der sog.
Handlung einen Vorwurf zu erheben, eine Miß-
billigung auszusprechen, eine Strafe zu verhängen
(uvgl. den Eingang zu dem Art. Strafe usw.
Sp. 257). Ohne Schuld keine Strafe. „Diese
Regel ist nach dem heutigen Standpunkt der
Wissenschaft so selbstverständlich, daß sie einer
Begründung nicht bedarf“ (Begründung zum
Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch,
Allgem. Teil S. 200). Ohne Umdeutung dieser
der Rechtssprache von jeher geläufigen Ausdrücke,
ohne Umdeutung der mit ihnen bisher verknüpften
Begriffe ist eine andere Auslegung des entschei-
denden § 51 also nicht möglich. Von determini-
stischer Seite aber wird diese Auslegung an-
gefochten. Danach soll „freie Willensbestimmung“
nicht in metaphysischem, sondern in psychologi-
schem Sinn zu verstehen sein, das heißt, sie soll
nichts anderes bedeuten, als „eigne Willens-
bestimmung“ oder „Freiheit von Hemmungen für
die Betätigung der geistigen Individualität“ oder
„regelmäßige Bestimmbarkeit durch Vorstellungen“.
Das Gemeinsame all dieser Auslegungen ist:
„freie Willensbestimmung“ heißt nur das Frei-
sein von äußerem Zwang, von nötigenden, deter-
minierenden Einwirkungen auf den Willen. Man
beruft sich hierfür auf die Motive zu § 51 des
Strafgesetzbuchs, wo gesagt ist, daß das Recht des
Staats, gegen den Verbrecher nicht bloß Siche-
rungsmaßregeln zu ergreisen, sondern ihn zu
strafen, auf dem allgemeinen menschlichen Urteil
beruhe, daß der gereifte geistig gesunde Mensch
ausreichende Willenskraft habe, um die Antriebe