Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Strafausschließungsgrund aus dem Gesichtspunkt 
der Unzurechnungsfähigkeit behandelt. Es wird 
durchgängig so dargestellt, als trete hier die „straf- 
rechtliche Unverantwortlichkeit der Kinder unter 
12 Jahren in prozessualem Gewand“ auf, und 
die andere Ansicht, wonach es sich nur um ein 
prozessualisches Privileg für die Kinder handle, 
sei als unrichtig zu verwerfen. Die Konsequenzen 
sind natürlich verschieden, ob man der einen oder 
andern Ansicht folgt, worauf schon in dem Art. 
Strafrecht, Sp. 320 hingedeutet ist. Geht man 
davon aus, daß das Gesetz eine materiell-rechtliche 
Bestimmung habe treffen wollen, daß also eine 
strafbare Handlung wegen Unzurechnungsfähigkeit 
des Täters als ausgeschlossen gelten soll, dann 
dürfen auch nicht Teilnahme, Anstiftung, Begünsti- 
gung, Hehlerei bestraft werden (was doch geschehen 
ist), weil keine strafbare Handlung vorliegt, in 
Ansehung deren eine solche Teilnahme stattgehabt 
haben könnte, es sei denn, daß die Handlung des 
andern eine selbständige strafbare Tat bedeute. 
Nach der zweiten Ansicht ist dagegen eine solche 
Bestrafung zulässig. Was die Altersstufe von 12 
bis 18 Jahren anlangt, so sagt das Gesetz, daß 
ein Angeschuldigter, der in diesem Alter eine straf- 
bare Handlung begangen habe, freizusprechen sei, 
wenn er bei Begehung derselben die zur Erkennt- 
nis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht 
besaß. Hier ist also keinenfalls von der Unzurech- 
nungsfähigkeit des Täters auszugehen, aber es 
bedarf zu einer Verurteilung eines solchen eines 
Mehr als bei andern, älteren Tätern. Es muß 
noch „die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der be- 
gangenen Tat erforderliche Einsicht“ besonders 
festgestellt werden. Das Gesetz will damit nicht 
verlangen, daß der Jugendliche in Wirklichkeit die 
Strafbarkeit seiner Handlung erkannt habe oder 
daß er in Wirklichkeit die Höhe der vom Gesetz 
angedrohten Strafe gewußt habe; es verlangt 
vielmehr nur, daß der Jugendliche die „Fähigkeit“ 
besessen, die Strafbarkeit der begangenen konkreten 
Tat zu erkennen. Und das muß im Urteil fest- 
gestellt werden. Kann diese Einsicht nicht festge- 
stellt werden, so ist der Jugendliche aus diesem 
Grund allein noch nicht unzurechnungsfähig im 
Sinn des Gesetzes; eine strafbare Handlung liegt 
deshalb doch vor, er ist aber freizusprechen, „nicht 
weil ihm jegliche Zurechnungsfähigkeit, sondern 
weil ihm die erforderliche Einsicht gefehlt hat“. 
Ergeben sich begründete Zweisfel an der Zurech- 
nungsfähigkeit als solcher, so muß selbstverständ- 
lich, wie auch bei andern Tätern, Freisprechung 
schon aus diesem Grund erfolgen, ohne daß noch 
weiter nach der Einsicht besonders gefragt zu wer- 
den braucht. — Das Gesagte gilt auch für Taub- 
stumme. 
5. Vergegenwärtigt man sich, daß nach dem 
vorher aus § 51 des St.G.B. Mitgeteilten eine 
strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn dem 
Täter infolge von Bewußklosigkeit oder krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit die freie Willens- 
  
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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bestimmung gefehlt hat, so wird man zu der An- 
sicht gelangen müssen, daß das Strafgesetzbuch das 
Verbrechen als Erzeugnis einer freien Willens- 
entschließung auffaßt, also davon ausgeht, daß 
der Mensch mit Willensfreiheit ausgestattet ist, 
daß die Richtung, die die Handlung nimmt, auf 
der freien Wahl des Handelnden, der auch anders 
hätte handeln können, beruht, kurz daß er mit 
Willensfreiheit im metaphysischen Sinn (libertas 
indifferentiae) begabt ist, und daß diese die 
Grundlage und das Wesen der strafrechtlichen 
Zurechnungsfähigkeit bildet. Das ist denn auch 
zur Zeit noch die in der Wissenschaft herrschende 
Ansicht, die Lehrmeinung der klassischen Schule 
(ogl. d. Art. Strafe usw. Sp. 267). Sie gründet 
sich formell auf den gebrauchten Ausdruck, der 
nach natürlicher, ungezwungener Auslegung einen 
andern Sinn nicht zuläßt und materiell auf die 
bis in die neuere Zeit hinein nicht angefochtenen 
Begriffe der strafrechtlichen Schuld und Strafe. 
Einem Menschen eine verbrecherische Handlung, 
also eine verbrecherische Willensäußerung zur 
Schuld oder als schuldhaft zurechnen, heißt, ihm 
den Vorwurf machen, daß er so, d. h. verbreche- 
risch, und nicht anders gehandelt habe. Der 
Begriff der Schuld setzt also das Vermögen freier 
Willensbestimmung voraus; ohne Willensfreiheit 
keine Schuld. Kann der Wille sich nicht frei be- 
stimmen, dann ist es unmöglich, wegen der sog. 
Handlung einen Vorwurf zu erheben, eine Miß- 
billigung auszusprechen, eine Strafe zu verhängen 
(uvgl. den Eingang zu dem Art. Strafe usw. 
Sp. 257). Ohne Schuld keine Strafe. „Diese 
Regel ist nach dem heutigen Standpunkt der 
Wissenschaft so selbstverständlich, daß sie einer 
Begründung nicht bedarf“ (Begründung zum 
Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, 
Allgem. Teil S. 200). Ohne Umdeutung dieser 
der Rechtssprache von jeher geläufigen Ausdrücke, 
ohne Umdeutung der mit ihnen bisher verknüpften 
Begriffe ist eine andere Auslegung des entschei- 
denden § 51 also nicht möglich. Von determini- 
stischer Seite aber wird diese Auslegung an- 
gefochten. Danach soll „freie Willensbestimmung“ 
nicht in metaphysischem, sondern in psychologi- 
schem Sinn zu verstehen sein, das heißt, sie soll 
nichts anderes bedeuten, als „eigne Willens- 
bestimmung“ oder „Freiheit von Hemmungen für 
die Betätigung der geistigen Individualität“ oder 
„regelmäßige Bestimmbarkeit durch Vorstellungen“. 
Das Gemeinsame all dieser Auslegungen ist: 
„freie Willensbestimmung“ heißt nur das Frei- 
sein von äußerem Zwang, von nötigenden, deter- 
minierenden Einwirkungen auf den Willen. Man 
beruft sich hierfür auf die Motive zu § 51 des 
Strafgesetzbuchs, wo gesagt ist, daß das Recht des 
Staats, gegen den Verbrecher nicht bloß Siche- 
rungsmaßregeln zu ergreisen, sondern ihn zu 
strafen, auf dem allgemeinen menschlichen Urteil 
beruhe, daß der gereifte geistig gesunde Mensch 
ausreichende Willenskraft habe, um die Antriebe
	        
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