Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

Staatsrat. (Geschichtliche Entwicklung, heu- 
tige Einrichtung und Geschäftskreis desselben in den 
europäischen Staaten; Berechtigung des Staats- 
rats in konstitutionellen Staaten.) 
I. Geschichtliche Entwicklung, heutige Ein- 
richtung und Geschäftskreis des Staatsrats 
in den europäischen Staaten. Wie alle Zentral- 
behörden, so hat sich auch der Staatsrat aus 
dem Hof des Königs oder Fürsten entwickelt. Die 
aus Rittern und geistlichen Würdenträgern be- 
stehende ständige Umgebung des Fürsten, die zu- 
nächst noch ohne feste Gliederung und Geschäfts- 
ordnung war, bildete die Wurzel, aus der der 
Staatsrat erwuchs. Seit der Mitte des 13. Jahrh. 
bildeten sich aus dem Hofpersonal vor allem in 
Frankreich und England Kommissionen besonders 
sachverständiger Räte und Diener heraus für ge- 
richtliche und finanzielle Geschäfte. Seit dem 
14. Jahrh. gewinnt das über den Kommissionen 
stehende Ratskollegium als oberste Regierungs- 
behörde mit nur beratendem Charakter festere 
Formen. Alle wichtigeren Regierungsgeschäfte be- 
spricht der Herrscher mit seinen Räten in diesem 
Ratskollegium. 
In England setzt die moderne Verwaltungs- 
organisation mit den Tudors (mit Heinrich VII. 
1485/1509) ein. Und die Schaffung des Staats- 
rats als Zentralorgan der Verwaltung wurde 
überall die wirksamste Stütze des Königtums im 
Kampf gegen die feudalen Gewalten als die ge- 
bornen Räte der Krone. Sie erfolgt in Frank- 
reich seit der Zeit Philipps des Langen (131 7/22), 
in Burgund unter Karl dem Kühnen (1467/77), 
in Osterreich und Deutschland seit Maxi- 
milian I. (1493/1519), in Kursachsen seit 1574. 
und in Brandenburg seit 1604. Aber nicht bloß 
der Kampf gegen den Feudalismus führt zur Neu- 
organisation dieser Staatsräte, sondern der sich 
neu entspinnende völkerrechtliche Verkehr veran- 
laßte da und dort gleichzeitig organisierte Zentral- 
stellen, namentlich für die Verwaltung der aus- 
wärtigen Angelegenheiten. Vorbild hierfür war 
die französisch-burgundische Organisation. Auf 
diese geht auch die Umgestaltung des englischen 
Staatsrats, des Privy) Council, unter Hein- 
rich VII. und Heinrich VIII. zurück. Da der 
völkerrechtliche Verkehr zum großen Teil mit rö- 
misch-rechtlichen Institutionen sich vollzog, so 
konnte man zu Mitgliedern des den Gesandten- 
verkehr dirigierenden Staatsratsnur Rechtsgelehrte, 
also Doktoren des römischen Rechts, machen. So 
erhält vor allem in Frankreich und England der 
Staatsrat übereinstimmende Struktur. Darum 
wurden in den Staatsrat in beiden Ländern öfters 
Leute geringer Herkunft berufen, weil man eben 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
  
dort Leute brauchte, die wirklich „arbeiteten“. 
Ebenso wurde der Staatsrat in Ausschüsse, Sek- 
tionen, Komitees geteilt. Eine dieser Sektionen 
ist in England dann der engere Staatsrat, das 
eigentliche Privy Council geworden, wie in Frank- 
reich der conseil des affaires (für auswärtige 
und wichtige Staatsangelegenheiten), bisweilen 
auch conseil secret genannt. Nach der zweiten 
englischen Revolution (1688) gab das Privy 
Council die Zügel seiner Gewalt an das „Ka- 
binett“ der Minister ab (vgl. d. Art. Staats- 
ministerium). Das englische Kabinett, d. h. das 
Gesamtministerium, gilt rein staatsrechtlich noch 
heute lediglich als ein Ausschuß des Staatsrats, 
des Privy Council, während in Frankreich, in 
Preußen und Osterreich eine vollständige und 
grundsätzliche Scheidung von Staatsrat und 
Staatsministerium eingetreten ist. Vor dem 
17. Jahrh. aber hing überall die Organisation 
der Ministerien mit der des Staatsrats eng zu- 
sammen. 
In Deutschland konnte die Entwicklung 
nicht den gleichen Gang wie in Frankreich und 
England nehmen, da die Reichsgewalt immer mehr 
an Macht und Kompetenzen verlor und die Ter- 
ritorialgewalten immer mehr erstarkten. Die von 
Maximilian I. geplanten Regierungsbehörden 
konnten sich nicht halten, und erst unter Ferdi- 
nand I. (1556/64) hat der „Hofrat" dauernden 
Bestand gewonnen. Dieser „Hofrat“ entwickelte 
sich mehr und mehr zum keaiserlichen Gerichtshof 
auch für das Reich, und die oberste politische Lei- 
tung kam an den seit 1527 aus dem „Hofrat“ 
entstandenen „Geheimen Rat“. Diese öster- 
reichische Einrichtung wurde dann überall in 
Deutschland nachgeahmt. So 1604 in Branden- 
burg. Indes war der „Geheime Rat“ nicht nur 
beratende, sondern zugleich die höchste verwaltende 
Behörde des Staats. Aus dem Geheimen Rat 
entwickelte sich einerseits der heutige Staatsrat, 
anderseits das heutige Staatsministerium (s. d. 
Art.), indem die festgewordenen Dezernate des 
„Geheimen Rats“ sich im Lauf des 18. Jahrh. 
zu besondern Ministerien ausgestalteten. Im 
17. Jahrh. aber ist der Geheime Rat noch das 
Werkzeug der absoluten fürstlichen Gesamtstaats- 
regierung, die den Fürsten auch auf seine Reisen 
zu begleiten hatte. 
In Preußen war im Lauf des 18. Jahrh. 
wiederholt die oberste Staatsbehörde umgestaltet 
worden. Der gegenwärtig bestehende Staats- 
rat gründet sich auf die Verordnung vom 27. Okt. 
1810 betr. die veränderte Verfassung der obersten 
Staatsbehörden. Nach Steins Plan sollte in dem 
reaktivierten Staatsrat die Einheit der Regie- 
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