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Hüter beider Tafeln. Die gottgewollte Ordnung
im Staat verkörpert sich durchaus nicht in der
Macht eines absoluten Königs, sondern sie zeigt
sich vielmehr in einer konstitutionellen Monarchie
mit einer natürlichen Gliederung des Volks mit
verfassungsmäßiger Sicherung, sofern nur alles
historisch überliefert ist. Stahl verwirft durchaus
nicht eine konstitutionelle Verfassung, sondern nur
eine parlamentarische Regierung und fordert auch
vom Herrscher die unbedingte Aufrechterhaltung
einer einmal bewilligten Verfassung. Die Wirksam-
keit des Staats erstreckt sich auf alle Gemeinzwecke.
In Bezug auf die Kirchen vertritt Stahl die Auf-
fassung, daß der Staat die Kirchen zu beaufsichtigen,
aber sie auch wegen ihrer hohen Aufgabe zu be-
schützen habe. Nach Jellinek (Allg. Staatelehre
183) laufen Stahls Ideen praktisch darauf hin-
aus, „den uralten theokratischen Gedanken im
Interesse der preußischen Konservativen zu mo-
dernisieren“.
Die Parteien zerfallen nach Stahl auf politi-
schem wie kirchlichem Gebiet in zwei Gruppen: in
die Parteien der Revolution und die der Legiti-
mität, in diejenigen des Unglaubens und des
Glaubens. Stahl hat 1850 das politische Schlag-
wort aufgebracht, daß der politische Hauptkampf
in Deutschland der sei, ob königliche oder parla-
mentarische Regierung.
Stahl gehört zur historischen Rechts-
schule. Er kennt kein anderes Recht als das po-
sitive. Recht und positives Recht sind für ihn gleich-
bedeutende Begriffe. Die Grundlage für die Bil-
dung des positiven Rechts ist Gottes Weltordnung.
„Was der Vorstellung eines Naturrechts zugrunde
liegt, sind eben jene Gedanken und Gebote der
Weltordnung Gottes, die Rechtsideen; diese aber
haben, wie ausgeführt worden, weder die erforder-
liche Bestimmtheit noch die bindende Kraft des
Rechts“ (Philosophie des Rechts II 224). Nach der
Auffassung Stahls gab es in Hellas kein selbstän-
diges Privatrecht (Constant-Stahl-Mohlsche Lehre
von der Nichtanerkennung der individuellen Per-
sönlichkeit in Hellas). Diese Auffassung ist als
falsch erwiesen (Jellinek, Allg. Staatslehre 301 ff).
In der Strafrechtstheorie geht Stahl über
Kant hinaus; die Strafe ist nach Stahl die Rache
Gottes. Stahl hat das Interesse am öffent-
lichen Recht wieder wachgerufen und hat die
spekulative Behandlung des Rechts belebt. Er hat
auch erkannt, daß nur von der Sittlichkeit her das
Recht gerechtfertigt und verstanden werden kann.
Stahl starb am 10. Aug. 1861 im Bad
Brückenau.
Literatur. „Pernice, Savigny, S."“ (ano-
nym, 1862); Art. „S."“ in den Staatslexika von
Rotteck u. Welcker, von Bluntschli u. von Wagener
sowie in der Allgemeinen deutschen Biographie;
G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (21905);
Cathrein, Moralphilosophie I u. II((1904); Lands-
berg, Gesch, der deutschen Rechtswissenschaft III, 2
(1910) 377f f; Erich Kaufmann, Studien zur
Staatslehre des monarchischen Prinzips (Leipziger
Stammgüter — Stände.
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Difs., 1906). Vgl. ferner das biograph. Vorwort
in der 1910 neu hrsg. S. schen „Staatslehre".
J. Bach, rev. J. Wirth.]
Stammgüter s. Familienfideikommisse.
Stände. (I. Begriff; II. Das Ständewesen
im Altertum; III. Das Ständewesen des deutschen
Mittelalters; IV. Die ständische Verfassung:
1. Reichsstände, 2. Landstände, 3. Im modernen
Staat; V. Stand und Klasse im heutigen Staat.)
I. Begriff. Unter „Stand“ verstehen wir eine
Gruppe von Menschen innerhalb eines Volks,
die durch einen gemeinsamen Beruf zusammen-
gehören; dieser Begriff bleibt auch dann gewahrt,
wenn der Beruf erblich wird, der Geburtsstand
ist wirklicher Stand, solang er sich als Berufs-
stand erhält. Die mittelalterlichen Stände in
Deutschland sind, vom geistlichen Stand abge-
sehen, erblich gewordene Berufsstände. Man kann
die Berufsstände nach mehreren Gesichts-
punkten einteilen; so kann man mit Rücksicht auf
ihr Verhältnis zum Staat rein privatrechtliche
und öffentlich-rechtliche Stände unter-
cheiden. Wohl denkbar ist, daß sich alle Genossen
einer Berufsklasse, ohne öffentliche Rechte zu be-
sitzen, zu einer Organisation zusammenschließen,
doch spricht man gewöhnlich nur dann dieser Or-
ganisation Standescharakter zu, wenn sie auch
bestimmte öffentliche Rechte besitzt. Die öffentlich-
rechtlichen Stände zerfallen wieder in politische
und nichtpolitische, je nachdem ihnen poli-
tische Rechte im engeren Sinn, z. B. das Recht
der Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Steuer-
erhebung usw., zukommen oder nicht. Man unter-
scheidet ferner erbliche und nichterbliche
Stände. Jene ergänzen sich durch Geburt, diese
durch freie Berufswahl.
Fast überall, bei allen Völkern und zu allen
Zeiten finden wir ständische Gliederung. Beie
manchen Völkern sind die Stände zu vollständig
gegeneinander abgeschlossenen Kasten erstarrt. So
vor allem bei den Indern.
II. Das Skändewesen im Altertum. Bei
den alten Agyptern gab es neben den im Besitz
des Grund und Bodens und der wichtigsten Staats-
ämter befindlichen Ständen der Priester und Ad-
ligen nur noch wenige freie Bauern, die Bewirt-
schaftung des Bodens und die Besorgung aller
Arbeiten erfolgte durch die große Masse der Skla-
ven. Doch waren hier die einzelnen Stände nicht
derartig kastenartig abgeschlossen, daß ein Über-
gang von einem Stand inden andern ausgeschlossen
gewesen wäre.
Viel strenger war und ist nochheute die kasten-
artige Gliederung und Scheidung der Bevölke-
rung Ostindiens. Dieses indische Kastenwesen
charakterisiert sich vor allem in der absoluten Herr-
schaft des Standes oder der Kaste der Brahmanen
und in der absoluten Rechtlosigkeit des untersten
Standes, der besitzlosen Parias. Zwischen beiden
steht die Kaste der Krieger und die der Handel-
und Gewerbetreibenden.
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