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Gegensatz zu den alten „Ständen“ steht die mo-
derne repräsentative Volksvertretung, die
auf dem Prinzip des Staatsbürgertums, der
Gleichheit aller vor dem Gesetz, beruht. Dieses
moderne konstitutionelle Repraͤsentativsystem ist
aber grundverschieden von dem ständischen System,
und zwar dies sogar unter der Voraussetzung, daß
der Konstitutionalismus noch nicht zum Parla-
mentarismus sich ausgestaltet hat, sondern noch
daran festhält, daß die oberste Gewalt im Staat
nach allen ihren Verzweigungen im Monarchen
sich konzentriert. Es sind namentlich zwei Mo-
mente, durch welche diese wesentliche Verschieden-
heit bedingt ist.
Fürs erste sieht die konstitutionelle Verfassung
von dem sozialen Ständewesen ganz ab; die Glie-
derung der Gesellschaft in verschiedene Stände
bleibt hier ganz außer Ansatz; sie bildet keinen
Faktor in der Konstruktion des konstitutionellen
Systems. An die Stelle der Stände tritt hier der
Kollektivbegriff: Volk. Das „Volk“, so heißt es
hier, ist berechtigt, an der Gesetzgebung teilzu-
nehmen und die Steuern und Lasten zu bewilligen.
Nicht eine ständische Vertretung steht dem Mon-
archen zur Seite, sondern eine „Volksvertretung“.
In der konstitutionellen Verfassung werden also die
Stände nivelliert, sie werden gleichsam in ihre
Atome aufgelöst, und die ungegliederte Gesamtheit
dieser Atome, die unter dem Kollektivbegriff „Volk“
zusammengefaßt wird, wird als das Subjekt ge-
dacht, welches mit dem Monarchen an der Gesetz-
gebung teilnimmt.
Infolgedessen wird dann fürs zweite, wenn es
sich um die Wahl der Glieder der Volksvertretung
handelt, nicht mehr nach Ständen, sondern nach
Köpfen gewählt: es werden Wahlkreise gebildet,
und alle wahlfähigen Bewohner dieser Wahlkreise,
mögen sie was immer für einer Berufsklasse an-
gehören, wählen durch Stimmenmehrheit einen
Abgeordneten, der gleichfalls was immer für einer
Berufeklasse angehören kann und nicht einmal in
dem gedachten Wahlkreis zu wohnen braucht, und
deputieren denselben in die Volksvertretung. Da-
bei kann das Wahlsystem wiederum ein doppeltes
sein, ein indirektes und ein direktes. Nach ersterem
wahlen die dazu Berechligten zuerst Wahlmänner,
und diese wählen dann erst den Abgeordneten.
Nach letzterem dagegen fallen diese Mittelspersonen
weg und werden die Abgeordneten unmittelbar von
den Wahlberechtigten gewählt. Die ständische und
die konstitutionelle Versassung kommen also zwar
darin mileinander überein, daß sie beide beschränkt-
monarchische Verfassungen sind, aber sie sind ihrer-
seits doch wieder wesentlich verschieden voneinander.
Wenn nun auch die Einführung der konstitu-
tionellen Verfassung, namentlich in den süd- und
einzelnen mitteldeutschen Staaten, sich fast un-
mittelbar anschloß an die Aufhebung des letzten
Restes der alten Stände, und wenn man auch fast
überall der modernen Vollsvertretung den Namen
„Ständeversammlung“ oder einfach „Stände“
Stände.
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gab, so sind doch die heutigen „Landstände“ eine
vollständige Neuschöpfung, deren Grundlage je-
weils die vom Monarchen gegebene Verfassung
bildet.
Soviel Egoismus und Engherzigkeit die alten
Stände auch gezeigt haben mögen, so ist doch un-
leugbar, daß auch in der Gegenwart aus den
Parlamenten, die den Stimmungen der breitesten
Volksschichten Rechnung tragen, die Interessen-
politik keineswegs verschwunden ist. Und mit Recht
sehen wir noch heute oder richtiger auch heute
wieder die Berufsstände auf dem Gebiet der Ver-
waltung erhöhte Bedeutung gewinnen. Sie haben
sich eigne Organe geschaffen, die jeweils die Inter-
essen ihres Standes wahrzunehmen haben, so die
Handels-, Landwirtschafts-, Gewerbe-, Hand-
werker-, Arzte-, Anwaltskammern. Gerade die
neueste Verfassungsgesetzgebung hat dieser erhöhten
Bedeutung der ständischen Vertretungen Rechnung
getragen, indem nunmehr in einigen deutschen
Staaten neben den Vertretern des standes- und
grundherrlichen Adels, der Geistlichkeit beider Kon-
fessionen und den Vertrauenspersonen des Landes-
herrn auch Vertreter der Handels-, der Landwirt-
chafts= und der Handwerkskammern verfassungs-
gemäß Mitglieder der Ersten Kammer des Landtags
sind. Wie stark die natürliche Kraft der ständischen
Idee ist, das erkennen wir auch daraus, daß z. B.
in Osterreich trotz der mit der Einführung des
allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Reichs-
ratswahlen vollzogenen vollständigen Nivellierung
der Berufsstände und trotz der politischen Gleich-
stellung aller gesellschaftlichen Schichten diese stän-
dische Idee doch wieder, wenn auch nur indirekt,
zur Geltung kommt, indem die Vertreter einzelner
Berufsstände im Abgeordnetenhaus Vereinigungen
bilden, um ihre beruflichen Interessen besser zur
Geltung bringen zu können. So finden wir im
Verzeichnis der parlamentarischen Klubs folgende
Liste: „Advokatenvereinigung“, „Freie agrarische
Vereinigung“, „Freie gewerbliche Vereinigung“,
„Freie industrielle Vereinigung“, „Freie Vereini-
gung der Arzte“, „Freie Vereinigung der Land-
städte und Märkte“, „Beamtenvereinigung“ usw.
und jüngst kam hinzu die „Vereinigung der katho-
lischen Geistlichen“.
Wir sehen auch hieraus, daß die berufsständische
Idee eben einfach nicht umzubringen ist, weil sie
einem natürlichen Bedürfnis der Gesellschaft ent-
spricht. — Wenn nun auch verfassungsgemäß die
Mitglieder beider Kammern der Volksvertretungen
überall Vertreter des ganzen Volks sein sollen, so“
ist vielsach doch noch das Prinzip der ständischen
Gliederung der Gesellschaft in der Zusammen-
setzung der Ersten Kammerrn der deutschen
Staaten wirksam. So besteht z. B. das preußische
Herrenhaus 1) aus den Prinzen des königlichen
Hauses, 2) aus Mitgliedern mit erblicher Berech-
tigung und 3) aus Mitgliedern, welche auf Lebens-
zeit berufen werden, darunter sind nun solche, welche
von bestimmten Verbänden dem König präsentiert
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