Ich batte die Anregung zu diesen Besprechungen gegeben. Bei Gelegen-
heit einer Besichtigung des Gefangenenlagers in Stralsund, zusammen mit
dem schwedischen Gesandten Grafen Taube, einem aufrichtigen Freund der
deutschen Sache, lernte ich den Fürsten Lieven kennen. Dieser war Leiter
des Lazarettzuges der Kaiserinmutter von Rußland gewesen und war mit
dem Zuge gefangen genommen worden. Er war ein vornehmer Balte
besten Schlages; ich hatte mich um seinen Austausch gegen einen deutschen
Herrn bemüht. In wenig Stunden sollte er über Schweden nach Ruß-
land fahren. Wir sprachen über die Gefangenenfrage, und dabei kam
mir der Gedanke, ihm einen Brief an meine Tante, die Kaiserinmutter,
mitzugeben, der sie bitten sollte, sich für eine Konferenz der Roten-Kreuz-
Oelegationen von Rußland, Deutschland und Osterreich einzusetzen. Als
Ort des Zusammentreffens schlug ich Stockholm vor, das mir nicht nur
der geographischen Lage wegen der geeignetste Ort zu sein schien, sondern
auch deshalb, weil Prinz Karl von Schweden, der Vorsigzende des schwe-
dischen Roten Kreuzes, der mit einer Nichte der Kaiserin verheiratet war,
die Garantie einer unbedingt unparteiischen Leitung der Geschäfte bot.
Das schwedische Rote Kreuz hatte damals schon viel für leidende Deutsche
getan.
In meinem Brief an die Kaiserinmutter sagte ich, die pharisäische Hal-
tung, die alle Regierungen und Länder in der Gefangenenfrage einnähmen,
verhinderte, das gemeinsame Heiden dieser unglücklichen Menschen gerecht
zu beurteilen. Mit gegenseitigen Vorwürfen wäre nichts getan, es gälte,
der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und Richtlinien für eine möglichst
menschliche Behandlung der Gefangenen zu finden. Das könne nur in
mündlicher Aussprache geschehen. Ich bat sie, ihre große Autorität für
eine Konferenz in die Wagschale zu werfen. — Ihrer Initiative ist es dann
hauptsächlich zu danken gewesen, daß die Widerstände in Rußland über-
wunden wurden. Am 22. November 1915 wurde die Konferenz eröffnet,
die bis zum 1. Dezember 1915 dauerte. Der Zusammenprall der Geister
war zeitweise sehr hart, und es konnte leider auch nicht verhindert werden,
daß ein Vormittag darauf verwandt wurde, die Vorwürfe, die man sich
zu machen hatte, gegenseitig vorzutragen und an Einzelfällen zu erhärten.
Es war ein unwürdiges Beginnen, aber die russische Delegation war trot
meiner Bemühung, uns diese Stunden zu ersparen, nicht davon abzubringen.
Die Arbeit selbst aber, die die Konferenz leistete,.! kann man als gut
und segensreich bezeichnen. Freilich traten später bei der Ausführung der
1 Das am 1. Dezember 1915 in Stockholm unterzeichnete Schlußprotokoll konnte
nur festsetzen, daß die gefaßten Beschlüsse von den Teilnehmern der Konferenz bei
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