Staatssekretär v. Jagow schrieb mir am 5. Juli 1916:
„Ew. Großherzoglichen Hoheit danke ich untertänigst für das gnädige Schreiben
vom 1.d. Mts. Nach den sofort von mir angestellten Ermittlungen ist René Wibaux
aus Roubaix durch das Militärgericht in Mons zu 1 Jahr 1 Monat Gefängnis
verurteilt worden. Die Nachricht, er sei zum Tode verurteilt, scheint sonach auf
JPrrtum zu beruhen. Der Fliegerangriff auf Karlsruhe muß diesmal entsetzlich
gewesen sein, das Abergreifen der kriegerischen Vernichtung auf die Zivilbevölke-
rung, wie es sich in diesem Kriege herausgebildet hat, läßt einen wirklich die Frage
stellen, worin der berühmte „Kulturfortschritt“ der Menschheit besteht. Nur in
der Erfindung teuflischer, technischer Mittel? Geradezu zynisch ist das französische
Kommuniqus, aber vice versa wäre wohl auch mancher deutsche AUberpatriot zu
einem ähnlichen Dokument fähig gewesen! Man kommt da wieder auf das unheil-
volle und zweischneidige Kapitel der Repressalien. Wir verleben jetzt bange Tage.
Gott gebe, daß wir dem Sturm, der in Ost und West gegen uns tobt, auch noch
gut standhalten! Die österreichische Schlappe hat ihn entfesselt und damit alle
guten Aussichten zerstört. Denn die Stimmung in Frankreich neigte zum Zu-
sammenbruch jetzt ist sie wieder ganz hoch. Ohne die erfolgreiche russische und die
dadurch hervorgerufene englische Offensive wäre die geheime Kammersitzung in
Paris wohl nicht so glimpflich für Briand verlaufen. Nun müssen wir auch noch
durch dieses Blutbad. Die Abermacht ist groß. Die Nachrichten von der Front
klangen ja gottlob nicht bedrohlich, aber ich fürchte immer, daß diese General-
offensive von längerer Dauer sein wird. Die Vorbereitungen der Gegner scheinen
sehr umfassend zu sein, sie wollen uns offenbar zermürben. Man sollte mit An-
sichten und Hrophezeiungen ja vorsichtig sein, aber mir will es scheinen, als ob
der jetzige Moment doch den Höhepunkt des Kampfes bedeutet und es nachher
zum Abflauen kommen muß, das uns irgendeiner Lösung entgegenführt. Eine
größere Kraftanstrengung kann man sich wenigstens kaum mehr denken. Ew. Ho-
heit wollen nicht glauben, daß ich in einer Pax Britannica mein Ideal sehe; timeo
Danaos et pacem ferentes, aber irgendeinen Frieden mühssen wir schließlich
nehmen, und ich möchte ihn von jeder Seite nehmen, wenn es ein einigermaßen
günstiger Friede ist. Aber die Russen wollen doch bisher nun einmal nicht. Und ich
sehe nicht, wie sich darin etwas ändern soll. Der leitende Wille fehlt, die bestim-
menden Kräfte paralysieren sich, und der Muschik muß weiter bluten.
Mich beschäftigt wieder sehr das Problem einer autoritativen Instanz für das
Gefangenenwesen, aber es wird wohl ein Problem bleiben.
Der herrschende Regen soll gut sein für die Front, weil er die feindlichen Flieger
behindert, aber für unsere Ernte ist er schlecht.“
1 Herr v. Jagow hat in einem Privatbriefe im Jahre 1926 seine Auffassung des
Ausdrucks „Pax Britannica“ dahin definiert: „Ich habe unter. Pax Britannica selbst-
verständlich keinerlei englischen Diktatfrieden“, sondern nur einen Friedenm it England
auf dem Wege allgemeiner Verständigung (den weite Kreise prinzipiell ablehnten
und perhorreszierten) verstanden. Wir, d. h. die politische Leitung, haben auch tatsäch-
lich damals — und ebenso vorher — keinerlei Anknüpfungen mit England geplant
oder einzuleiten versucht — einfach aus der Aberzeugung, daß in London der Boden
dafür nicht reif war. Daß zur Herstellung eines russischen Separatfriedens alle nur
mmöglich erscheinenden Versuche gemacht, daß sie aber sämtlich gescheitert sind, ist,
wenn ich nicht irre, auch Sr. Gr. H. dem Prinzen damals schon bekannt gewesen.“
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