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das ist von einer so kritiklosen Naivität, dass es sogar die Satire entwaff-
net. Wie fast alle kommunistischen Propheten ist auch P. radikaler Indivi-
dualist; nur ist er sich dessen im Gegensatz zu fast allen andern völlig
klar bewusst. „Das konkrete einzelne Individuum* ist sein Ausgangspunkt,
dessen Existenzsicherung der einzige Gegenstand seiner Sorge. Von sozialen
Gruppen und ihren Klasseninteressen und Klassenkämpfen will er nichts
wissen. Seine Lösung der sozialen Frage erwartet er nicht von der öko-
nomischen Entwicklung, sondern von zweckbewusster staatlicher Anordnung,
von einem „neuen Staatsrecht*. Dem stellt er die Aufgabe: „jedes mensch-
liche Individuum sich mit Gesellschafts- oder Staatsgarantie behaglich aus-
leben zu lassen“. Zu diesem Zwecke muss die staatliche Organisation nach
dem Motto gestaltet werden: „Für sekundäre Bedürfnisse das Majoritäts-
prinzip; für fundamentale das Prinzip der garantierten Individualität*.
Nämlich so: „Das notwendige Minimum in natura erhält jeder Staatsange-
hörige ohne Bedingung und ohne Ausnahme von der’Geburt bis zum 'l'ode.
Zu diesem Behufe existiert eine Nährarmee, also auch eine Nährpflicht, der-
zufolge alle tauglichen Personen — Männer wie Frauen — eine Anzahl
von Jahren dienen müssen, um alles für sämtliche Staatsangehörige Not-
wendige zu produzieren. Nach abgedienter Nährpflicht steht es dann jedem
frei, zu dem ihm ohnedies gebührenden und lebenslänglichen, garantierten
Lebensminimun noch ein Mehreres zu erwerben, indem er sich als Privat-
person wirtschaftlich genau so betätigt, wie das heute unter der Herrschaft
der freien Konkurrenz und der Geldform der allgemeine Fall ist.“ Die
Nährarmee ist mit militärischer Disziplin und Subordination unter den
Zwangsbefehl der betreffenden Verwaltungsbehörde gestellt. „Jedem wird
ganz einfach jene Tätigkeit zugewiesen, für die man ihn tauglich hält...
Ganz frei und unabhängig und zugleich vor Not assekuriert sein, ist in
unsern Breitegraden..... ganz unmöglich.* Ueber die Bildung jener all-
mächtigen Behörde sagt dies merkwürdige Staatsrecht keine Silbe! Wohl
aber will es die individuelle Existenz auch dadurch sichern, dass eine all-
gemeine Wehrpflicht nur im Frieden besteht; dass aber jeder Einzelne die
freie Entscheidung hat, ob er einen Krieg mitmachen will oder nicht!
O si tacuisses, Lynkeus mansisses! Schade ist es um manche treffen-
den Bemerkungen sowohl über die Einseitigkeit der Sozialdemokratie, die
die Dinge ausschliesslich vom Standpunkt der Industriearbeiterschaft be-
trachtet, wie über unser. „Zeitalter der Polissonerie“. Solche Aeusserungen
treffender Kritik müssen im Zusammenhang mit jenem völlig kritiklosen
Programm wirkungslos verloren gehen.
Hugo Preusa