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Aus dem Leben der Kriegsgefangenen in Sachsen
Von Prof. Dr. Richard Laubes')
I. Der Einzug der ersten Kriegsgefangenen in
Königsbrück
Gibt es wohl im Sachsenlande Jungfrauen und Jüng-
linge, Frauen und Männer, die nicht einen Kriegsgefangenen
gesehen hätten? Kaum, denn ob man besonders in den
Jahren 1916—18 still durch die Wälder zog, auf staubiger
Landstraße mar-
schierte, durch Wie-
sen und Felder wan-
derte, mit der Eisen-
bahn fuhr, in der
Großstadt zu Hause
war oder auf dem
einsamsten Dorfe
wohnte, überall traf
man auf diese
Fremdlinge in un-
sern Gauen. Die
Hunderte, Tausende,
ja Millionen Men-
schen aus fremden
Ländern und Erd-
teilen zeugten von
den Riesenerfolgen
unserer Heere auf
den Schlachtfeldern
aller Kampfstriche.
Wer konnte solch
unerhörte Leistungen
unserer Helden im
furchtbaren Welt-
kriege ahnen, als
Ende August 1914
die ersten Kriegs-
gefangenen auch in
Sachsen einzogen?
Das Bild davon
wird mir unver-
gessen bleiben. Herr-
liche Sommernacht
lag über den Wald-
streifen und niedri-
gen Häusern des
friedlichen Lagers
Truppenübungs-
platz Königsbrück.
Die Hauptstraße war
auf beiden Seiten
von deutschen Kriegern eingesäumt. Alle standen stumm,
aber innerlich erregt da. Nur hier und da hörte man die
Frage: „Wann werden sie kommen?“
Da, es war Mitternacht: Von weitem hörte man das
dumpfe Geräusch matter Massentritte; näher und näher
kam es; die ersten Gruppen bogen in die Lagerstraße ein.
Welch ein Anblick! Müde, fahle, ernste Gesichter gallischen
Schnittes, Männer in den besten Jahren; ein endlos langer
Zug; Wagen mit Leichtverwundeten oder Erkrankten! Laut-
los standen die Deutschen und ehrten sich so selbst.
) Nach den Urkunden der Inspektion der Kriegsgefangenenlager
und meinen Beobachtungen dargestellt.
Generalmajor Stark,
Inspekteur der Kriegsgefangenenlager Sachsens
Gedanken, Gefühle ganz widersprechender Art huschten
über meine Seele hin: Die ersten Feinde bezwungen in
unserer Hand; welch stolzer Gedanke! Aber Feinde konnten
es nicht mehr sein, denn sie trugen keine Waffen; elend,
heimatlos, gerissen aus heimischem Glücke, so kamen sie
mir vor und erregten mein Mitleid; unwillkürlich dachte ich
mich selbst oder einen Bruder oder einen Verwandten oder
einen guten Freund
an die Stelle eines
dieser unglücklichen
Menschen und be-
schloß, sie darum so
zu behandeln, wie
ich es im umge-
kehrten Falle vom
Gegner erhoffthätte.
Und wie mag es
in der Seele dieser
Armen ausgesehen
haben? Der Mann
von der Frau ge-
rissen, der Vater
den Kindern ge-
raubt, der Sohn für
die Eltern verloren,
der Bräutigam von
seiner Braut ge-
trennt, jeder im
fremden Lande, in
unbekanntem, ja un-
benanntem Orte,
ganz ungewisse,
dunkle Zukunft vor
sich, müde, hungrig,
umgeben von ge-
spenstischer Nacht,
in der künstliches
Licht unheimliche
Schatten warf; wirr
der Sinn, unglück-
lich das Herz, ge-
brochen der Wille,
darum unaussprech-
lich elend das Mie-
nenspiel!
Aber eins schenk-
te den Gefangenen
noch diese Nacht:
eine wohlvorberei-
tete Ruhestatt, dann Speise und Trank in einem Lager,
in dem sich die nächsten Wochen, ja Monate, vielleicht
sogar Jahre ihres Lebens abspielen sollten als in einer
zweiten Heimat.
II. Die Kriegsgefangenen in den Lagern
1. Die Unterkunft
Deutschland mag auf den Krieg vorbereitet gewesen sein
oder nicht, das hat es jedenfalls nicht vorausgesehen und
daher nicht vorweg ordnen können: die Unterbringung
Hunderttausender von Kriegsgefangenen. Trotzdem hat es