Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

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darin und davor entwickelte. Wer den, wie ich, ein Jahr 
lang täglich beobachten durfte, der wird das Bild davon 
nie wieder vergessen. Ich fühlte mich in das Leben und 
Treiben eines großen Jahrmarktes oder eines ländlichen 
Vogelschießens versetzt. Da die Zahl der Geschäfte bei 
weitem nicht der Zahl der Gefangenen entsprach, so stürmten 
diese förmlich jeden Morgen die Buden. Einzelne Gefangene 
setzten sich bereits von morgens 2 Uhr oder noch früher 
vor die Einlaßtür, um früh als erste Kunden bedient zu 
werden. Einen polnischen Juden sah ich z. B. mit mehreren 
Säcken versehen eines Morgens etwa gegen 4 Uhr auch 
dort lagern. Um 9 Uhr traf ich ihn wieder. Er hatte 
sich aus Brettern und Böcken einen Ladentisch gezimmert 
und ein Eigengeschäft eröffnet. Dort verkaufte er den 
Meistbietenden die Beute seines Frühgeschäftes: Brot, 
Brötchen, Wurst, Butter, Fett, Speck, Schinken, Bürsten 
  
Russische Gefangene beim Brotfassen 
und, wer weiß, was noch mehr, bis ihm sein neues oder 
auch altes Handwerk vom deutschen Wachtmanne gelegt 
wurde. Geld hatten die Gefangenen, besonders die Fran- 
zosen, die ersten Monate der Gefangenschaft im Uberfluß 
und erregten damit nicht selten den Neid der deutschen 
Kameraden. Dafür konnten sie sich alles leisten, was ihr 
Gaumen begehrte: Kakao, Schokolade, Kaffee, Milch, 
Zucker, Brot, Semmel, Zwieback, Butter, Käse, Fisch jeder 
Art, Schinken, Speck usw. So feierten sie Tag für Tag 
wahre Feste, insonderheit in dem einen Lager, wo den Fran- 
zosen ein ganzes Gasthaus überlassen worden war, bei Spiel 
und Tanz und Gesang. Man glaubte nicht, daß sie in Ge- 
fangenschaft lebten, nein, man mußte annehmen, sie feierten 
ihr Siegesfest im voraus, diese leichtlebigen Gallier. 
Aber nach und nach kehrte Ruhbe und Ernst auch in den 
Verkaufsstellen ein, und zwar in dem Maße, in dem die 
Gelder abnahmen, und die Waren, namentlich die käuflichen 
Nahrungsmittel, knapper auf den Markt kamen. Die un- 
erträgliche Länge der Haft trug das Ihre dazu bei. Ja, 
es kamen Monate, wo tiefer Ernst über der ganzen Ge- 
fangenenstadt lag, weil die Verpflegung nicht nur den ver- 
antwortlichen Lagerstellen, sondern auch den Gefangenen 
größte Sorge einflößte. Auch sie sind überstanden worden 
wie die bittersten Jeiten der Ernährung unseres Volkes 
und seiner Gefangenen. 
Was wir auf dem Gebiete der Verpflegung unserer Feinde 
in reichlich 4 ½ Jahren geleistet haben, das kann die allem 
Kriegswesen abholde, von Umsturzwogen durchtobte Gegen- 
wart nicht beurteilen, das wird erst in etwa hundert Jahren 
die Nachwelt aus den Urkunden richtig einschätzen. Ver- 
hungert ist in Deutschland, in Sachsen, kein Gefangener, 
obwohl Hunderttausende unserer Volksgenossen am Hunger- 
tuche nagten. 
3. Die Bekleidung 
Die Bekleidung der Kriegsgefangenen bereitete vorerst 
der Heeresverwaltung so gut wie keine Sorge. Denn diese 
trafen durchweg gut ausgestattet in den sächsischen Lagern 
ein. Die meisten unter ihnen trugen ganz neue Kleidungs- 
stücke und gutes Schuhwerk. Das galt ganz besonders von 
den Russen, die für französisches Geld begehrenswerte 
Wäsche, Hosen, Röcke und Stiefel erhalten hatten. Zudem 
war es Sommer, glühendheißer Sommer, dem ein warmer 
Herbst folgte, so daß auch eine minderwertige Bekleidung 
erträglich erschien. Für den Winter auch brauchten die Lager- 
insassen nicht zu bangen, weil sie alle mit guten Mänteln 
versehen in die Gefangenschaft kamen. 
Indes mit der zeit nützten sich 
auch die besten Kleidungs= und 
Wäschestücke ab, zumal Tausende 
ihrer Träger fleißig im Lager oder 
in seiner Umgebung arbeiteten. An- 
dere verkauften, um Geld für Nah- 
rungomittel zu beschaffen, die ent- 
behrlichsten Stücke. Darin taten sich 
geradezu die Russen hervor. Für 
einen lächerlich niedrigen Preis ver- 
äußerten sie z. B. ihre kostbaren 
bohen Juchtenstiefel an Fuhrleute, die 
ins Lager kamen, oder verbotener- 
weise ganz heimlich an deutsche Wehr- 
leute. Damit verfolgten viele zu- 
gleich den Zweck, von der Arbeits- 
pflicht sich zu befreien, denn ohne 
Fußbekleidung konnten sie doch nach 
ihrer Meinung nicht zu Dienstlei- 
stungen herangezogen werden. 
Wenn auch viele der Gefangenen 
ihren Kleidungs= und Wäschebestand 
durch Sendungen aus der Heimat ergänzten, so bildete 
sich doch ganz allmählich die Notwendigkeit für die 
Heeresverwaltung heraus, auf Ersatz der abgetragenen 
Bekleidung zu sinnen. Dieser sollte ursprünglich in erster 
Linie aus Beutebeständen erfolgen. Da sie aber infolge der 
ungeheuren Jahl der zu versorgenden Gefangenen nicht 
ausreichten, machte sich bald die Einführung eines eigen- 
artigen einfachen Gefangenenanzuges notwendig. Als seine 
wesentlichen Stlcke galten nach einem Merkblatte, das vom 
preußischen Kriegöministerium herausgegeben wurde, etwa 
folgende: eine Schirmmütze, eine Halsbinde, eine schwarze 
Jacke und Hose, ein Mantel und zwei Paar Schuhe; 
ferner zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, zwei Unterhosen 
und nach Bedarf ein Paar Tuchhandschuhe, sowie eine 
braune Zeltbahn als Regenschutz. Als Abzeichen jedes Ge- 
fangenen dienten am linken Oberarm des Mantels oder des 
Nockes eine 10 Jentimeter breite Binde, an der Hosen- 
naht § Zentimeter lange Streifen und an der Mütze Besatz- 
streifen und Vorstöße aus braunem Zeltbahnstoffe. Für 
die außerhalb der Lager arbeitenden Gefangenen durfte in 
dringenden Fällen besondere Berufokleidung beschafft 
werden. Von dieser Erlaubnis ist namentlich in den großen 
Fabrikbetrieben reichlich Gebrauch gemacht worden. 
Während diese Arbeitsanzüge anfangs von den Arbeit- 
gebern im freien Handel beschafft wurden, mußte die Heeres- 
verwaltung in der Beschaffung der eigentlichen Gefangenen- 
kleidung nach Aufzehrung der Beutevorräte auf die Be- 
stände der Ersatztruppenteile zurückgreifen. Das konnte sie 
aber auch nur bis zu einer sehr naheliegenden Grenze, 
denn der Bedarf des eigenen Heeres war schon von vorn- 
herein sehr groß und wuchs täglich. Die Lager halfen sich
	        
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