Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

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die letzte Entscheidung: Deutschland hat den Krieg an Ruß- 
land und Frankreich erklärt. Wie mit einem Blitzstrahl 
wurde der ganze Ernst der Lage grell beleuchtet, als nicht 
nur Reserve und Landwehr, sondern in manchen Grenz- 
bezirken — in Sachsen allerdings zunächst noch nicht — 
sogleich auch der Landsturm aufgerusen ward. An dem- 
selben Tage folgte das Ultimatum an Belgien; sodann am 
4. August, was man in weiteren Kreisen zunächst kaum für 
mröglich gehalten hatte, die Kriegserklärung des als stamm- 
verwandt angesehenen England an uns. Der Krieg um 
Deutschlands Dasein, der europäische Krieg, der Weltkrieg 
war schaudernd und dennoch stolz erlebte Wirklichkeit ge- 
worden. 
Die Mobilmachung des Heeres vollzog sich in Sachsen 
wie anderwärts nach vorgesehenem Plane mit einer Pünkt- 
lichkeit und Genauigkeit, wie sie bei dem an strengste Pflicht- 
erfüllung und peinliche Ordnung gewöhnten Beamtentum 
erwartet werden durfte. Aber es geschah mehr, als das von 
den Oberen verlangte; nun hieß es: „Das Volk siehr auf, 
der Sturm bricht los.“ Eine geistige Mobilmachung setzte 
ein, nicht vorausberechnet und künstlich gemacht; nein, aus 
dem tiefsten Urgrund der Volksseele brach es hervor, ganz 
ursprünglich und elementar, vergleichbar der Bewegung vor 
hundert Jahren in den Freiheitskriegen, deren man soeben 
erst feiernd gedacht hatte, nur noch allgemeiner, massiger, 
mit größerer Wucht. Sie ist das Herrlichste, was Deutsch- 
land im Weltbrieg erlebt hat, ewig denkwürdig, unverlier- 
bar, ein ehernes Stück deutscher Geschichte, das keine Schick- 
salswende hinwegzuräumen vermag, bedeutsam für alle Zu- 
kunft: denn dieser Geist der reinsten Vaterlandsliebe und 
höchsten Opferbereitschaft für die staatliche Gemeinschaft und 
die große völkische Einheit, die uns alle umschließt, mag er 
auch, wie die geschichtliche Erfahrung lehrt, nur in ungewöhn- 
licher Zeit mächtig emporlodern, wird aus dem Gedächtnis 
nie völlig verlöschen. Auch Sachsen hat an dieser Bewegung 
des Geistes von 1914 seinen vollen Anteil gehabt, gewaltiger, 
ungehemmter, allumfassender als einst an der geistigen Er- 
bebung der Freiheitskriege 1813/14; ja, es darf gesagt 
werden: das Erleben von 1914 war die größte und un- 
widerstehlichste Bewegung allgemeiner vaterländischer Be- 
geisterung, die über Sachsen in seiner Geschichte bisher 
überhaupt dahingeflutet ist. Es war eine harte, eiserne 
Jeit; in Sachsen, wo der Volkscharakter, dem eine gewisse 
Weichheit eigen ist, bisher seine besten Eigenschaften bei Wer- 
ken des Friedens bewährt hatte, weckte der Aufschwung 
zu heroischem Denken und Fühlen schlummernde Seelen- 
bräfte seltener Art, deren Entfaltung eine ganz ungewöhn- 
liche Lebensbereicherung bedeuteten. Etwas davon festzu- 
halten, wird das Köstlichste und Wertvollste sein, was eine 
Darstellung „Sachsens in großer Zeit“ über das geistige 
Leben in unserem engeren Vaterlande während des Welt- 
brieges zu bieten imstande ist. 
Forschen wir nach den tiefsten Ursachen des seelischen 
Aufschwungs, der dem deutschen und sächsischen Volke im 
Sommer 1914 wie ein herrliches Wunder geschenkt war, 
so werden wir ohne Selbstüberhebung bekennen dürfen: eine 
solche Bewegung erwächst nur auf dem Grunde eines völlig 
reinen Gewissens; ein Volk, dem das Bewußtsein seiner 
Schuldlosigkeit getrübt ist, kann niemals die Kraft dazu 
finden. Felsenfest waren die Deutschen und unter ihnen 
die Sachsen, die soeben erst in ehrlichem Wettkampf um 
die Palme friedlicher Kulturarbeit erhebliche Aufwendun- 
gen gemacht hatten, davon überzeugt, daß sie nur von außen 
her durch die Scheelsucht und das Ränkespiel der Feinde 
in diesen fürchterlichen Krieg hineingezwungen wurden; sie 
vertrauten auf die bewährte Friedensliebe des Deutschen Kai- 
sers und die Gewissenhaftigbeit seiner Regierung: nur nach 
der Erschöpfung aller friedlichen Mittel, dies stand ihnen 
unverrückbar fest, war der unausweichliche Entschluß, in 
diesen Krieg zu gehen, gefaßt worden. So fühlten sie sich 
von der Schuld am Kriege frei; man müßte denn den 
glänzenden wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands, an dem 
Sachsen redlichen Anteil hatte, und das gesteigerte nationale 
Selbsibewußtsein als Ursachen gelten lassen wollen, welche 
die Mißgunst der Gegner hervorriefen und mit zur Welt- 
katastrophe trieben. Um so unumstößlicher war die Gewiß- 
heit von der Schuld der Feinde, von dem bitteren uns an- 
getanen Unrecht. Nur Belgien gegenüber war, so mochte 
es damals scheinen, unser Vorgehen unter rechtlichem Ge- 
sichtspunkt nicht ganz einwandsfrei; doch das offene Be- 
kenntnis des Reichskanzlers in diesem Punkt mit der Ver- 
heißung künftiger Wiedergutmachung, später so oft als 
politisch unklug getadelt, half zunächst dazu, bei nicht wenig 
Volköygenossen die Uberzeugung zu stärken, daß Deutschland 
nur in ußerster Lebensnot, wenigstens nicht mit geheimem 
Unrecht, zu den Waffen griff. Daraus ging ja der unver- 
gleichliche Schwung der geistigen Bewegung von 10914 her- 
vor, daß dieser uns aufgezwungene Krieg allgemein als 
Landesverteidigung ins Volksbewußtsein einging, als un- 
bedingt notwendiger Schutz des über alles geliebten Vater= 
lands in höchster, von den Feinden frevelhaft herauf- 
beschworener Gefahr. Not lehrt beten, sagt das Sprichwort 
und weist damit auf die Hinwendung der Seele zu der höch- 
sten Kraft alles Guten in der Welt; Not weckt die besten 
schlummernden Kräfte des Innenlebens zu ungeahnter Ent- 
faltungsfähigbeit und lehrt sich zusammenzuraffen und zu 
Leistungen, die menschenunmöglich scheinen, zu steigern. So 
ward der Geist von 1914 aus gutem Gewissen und dem 
elementarsten Triebe des Selbstschutzes zur Erhaltung 
der lebensnotwendigsten und höchsten Güter geboren. Sehr 
bald aber gesellte sich dazu die Erhebung des Gemüts, die 
aus dem Erfolg großer Tat hervorgeht; denn nach den 
ersten Wochen verhaltener Spannung bamen in rascher Folge 
die einander überstürzenden Nachrichten, die Sieg auf Sieg 
verkündeten; kaum mochte man Anlaß finden, die an den 
sonnig strahlenden Tagen zur Siegesfeier wehenden bunten 
Fabnen über Nacht einzuziehen. Der Notruf eines aufs 
äußerste bedrohten Volkes wandelte sich in millionenfach 
hallenden Jubel. Am reinsten und klarsten kam bei alle- 
dem der ursprünglichste Grundgedanke des Verteidigungs- 
krieges bei den Ereignissen in Ostpreußen zum Ausdruck: 
siegreiches Zurückschlagen der verwüstend ins gefährdete Land 
einbrechenden russischen Massenheere auf dem Schlachtfeld 
um Tannenberg unter Hindenburgs genialer Führung. In- 
des auch im Westen, nach dem gewaltigen Vorstoß ins 
nördliche Frankreich hinein, ward wieder ein gigantisch an- 
gelegter Abwehrkampf geführt; denn in der unermeßlichen 
Schützengrabenlinie von den Höhen des Oberelsaß bis zu 
der flandrischen Küste nahe am Kanal stand fest und treu 
die Wacht zum Schutze der fernen Heimat. 
Wie aber trat nun, an welchen Merkmalen erkennbar, 
jene geistige Bewegung von 1914 in die Erscheinung? Vor 
allem war es der Zug wundervoller Einmütigkeit des gan- 
zen Volkes, der ihr in großartiger Weise ein völlig harmo- 
nisches Gepräge verlieh: das Fürstenhaus, die Höchstgebil- 
deten und der einfache, schlichte Mann, Stadt= und Land- 
bevölkerung, Unternehmertum und Arbeiterschaft, alle waren 
von gleicher Gesinnung erfüllt; die Parteien, Konservative, 
Liberale und Sozialdemokratie, mochten sie sich das Ver- 
bleiben bei ihren politischen Grundsätzen vorbehalten, rich- 
teten den inneren Burgfrieden auf, damit die gesammelte 
Kraft zur Erhaltung der Volkseinheit das Höchste zu leisten 
vermöchte. Gerade dies war so tröstlich und erhebend, daß 
auch die Arbeiter, die in Sachsen den Hauptteil der ge- 
samten Einwohnerschaft ausmachen, nicht abgesondert von 
den übrigen Volkögenossen beiseite standen; freudig über- 
rascht entdeckte gar mancher, wie lieb und wert ihm sein 
Vaterland schon gewesen war.
	        
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