Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

Scherz bot der vogtländische Dichter L. Riedel; einen glück- 
lichen Volkston traf auch Franziscus Nagler, Kantor in 
Leisnig, der die „Dorfheimat“ und das Kleinstadtleben 
nach seiner guten Seite in Bildern „An der Stadtmauer“ 
schilderte und an die Kameraden draußen seinen langen fröh- 
lichen Feldpostbrief „Wie lieb ich dich, mein Sachsen- 
land“ schrieb. Die „Kulturgeschichtlichen Skizzen“ P. G. 
Münchs, anspruchslos und humorvoll, erregten viel Freude. 
Sollt: es nicht auch als ein Zeichen der Entwicklung des 
geistigen Lebens während der Kriegszeit anzusehen sein, daß 
nach Erinnerungen einer 80 jährigen Dresdenerin die Erzäh- 
lung „Sonnenkind“ (ovon Marg. Nicolaus) erschien und 
viel Beifall fand, das Bild einer schlicht-bürgerlichen Per- 
sönlichkeit nach dem Spruch: 
„Der hat sein Leben am besten verbracht, 
Der die meisten Menschen hat froh gemacht.“ 
Während eine Kriegsdichtung von ganz überragender 
Größe von Sachsen nicht ausging, wirkte sehr stark nach 
außen, dank der seit einem Menschenalter errungenen füb- 
renden Stellung, der Kunstwart, von Ferd. Avenarius 
als weit. gelesene Zeitschrift von allgemein deutscher Be- 
deutung herausgegeben. Seinen Dienst als getreuer Wächter 
des innerlich Echten und wirklich Wertvollen in Kunst und 
Kultur tat er auch im Kriege; im äußeren Umfang etwas 
eingeschränkt, erweiterte er sogar sein Stoffgebiet auf alle. 
Fragen des deutschen Lebens und trat seit dem 30. Jahr 
seines Erscheinens als „Deutscher Wille“ auf. Deutschtum 
im echtesten und lautersten Sinne war seine Losung. Wider 
ungehörige Verkennung und Herabwürdigung deutschen Gei- 
stes im Ausland wandte er sich mit Glück und Geschick, 
freilich auch wider ungerechte Herabsetzung fremder Lei- 
stungen bei uns im Lande und wider den hier nicht fehlenden 
Kriegskitsch. Immerhin ist es bezeichnend, daß seine Über- 
schau über Literatur, bildende Kunst, Musik im Vergleich 
zur Betrachtung von Politik, Wirtschaft, Lebensresorm all- 
mählich an Breite verlor. — Ganz im Sinne des Kunst- 
warts, der sich stets für Reinigung des Geschmacks ein- 
setzte, sowie des von Dresden aus geleiteten Dürer- 
bundes war der Kampf gegen die Schundliteratur, der 
nunmehr auch von amtlichen Stellen (Pressezensur der 
Militärbehörden) aufgenommen wurde; überdies wandte 
sich mit vollem Recht der Verein für sächsische Volks- 
kunde gegen die Karikatur sächsischer Volksart in der 
leider immer wieder auftauchenden „Bliemchendichtung“, 
die in der ernsien Kriegszeit ganz besonders als arger 
Schädling empfunden ward. 
Die zur Pflege des literarischen Lebens im Lande be- 
stehenden Vereinigungen (in Dresden der Literarische Verein, 
die Literarische Gesellschaft, die Gesellschaft für Literatur 
und Kunst; in Leipzig der überaus rührige Schillerverein, 
um dessen künstlerische Leitung sich Prof. Witkowski ein 
entschiedenes Verdienst erwarb) trafen mancherlei Veranstal- 
tungen, um ihren Mitgliedern wie auch einem frei zu- 
sammenströmenden Publikum Erhebung und Belehrung, 
Aufklärung über die Fragen „Krieg und Kultur“ zu schaf- 
fen; daneben ging eine reiche Tätigkeit freier Vorträge und 
künstlerischer Vorlesung von Dichtwerken einher, oft zugleich 
im Dienste sozialer Kriegshilfe. Hervorragende Künstler 
und Gelehrte von auswärts wetteiferten mit den heimischen, 
durch ihr Wissen und Können Stunden feinen geistigen 
Genusses und der ach so nötigen seelischen Ausspannung 
zu bereiten. Dabei stellte Dreoden einen der ausgezeichnet- 
sten, in seiner Art vielleicht den bedeutendsten Meister- 
sprecher Deutschlands, Friedrich Erhard, der damals wahr- 
haft große Wirkungen erzielte, indem er einzigartige Werke 
der Weltdichtung durch seine tiefdurchdachte und klangvolle 
Vortragskunst zu neuem Leben erstehen ließ. Auch Br. Türsch- 
manns sei gedacht, der Stellen aus Fichtes Neden an 
die deutsche Nation eindrucksvoll vortrug. In Dreöden 
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brach, während es sonst im Lande auf dem literarischen 
Felde noch ruhig blieb, auch schon der Sturm und Drang 
allerneuester Dichtung vor: zuerst im November 1916 wur- 
den Werke von Mitarbeitern der Zeitschrift „Neue Ju- 
gend“ vorgelesen; Ernst Deutsch scharte um sich den Kreis 
der Dresdener „Expressionisten“, der „Dresdener Verlag 
von 1917“ wurde gegründet, in dem unter anderen Richard 
Fischer und Alfred Günther Proben ihrer traumhafte Schön- 
heit atmenden Poesie veröffentlichten, die „Sturm“-Abende 
hatten berauschenden Erfolg — ein von allem Biherigen 
gänzlich abgewandter Geist forderte laut und vernehmlich 
Anerkennung; die Bewegung von 1914 war verschäumt. 
Es war natürlich, daß das seelische Erleben in der 
Kriegszeit auch zu musikalischem Ausdruck drängte. Denn 
Musik im tiefen Sinne des Worts ist nicht rauschendes, 
dem Ohr wohlgefälliges Vergnügen, sondern Aussprache 
innerster seelischer Regungen in naiv schlichter Form wie 
in reichster Fülle der Klangwirkung. In dieser Zeit, da 
ein großes Gemeingefühl alles beherrschte, wäre das Volks- 
lied das geeignetste Ausdrucksmittel dafür gewesen. Aber 
war die Gegenwart wirklich noch fähig, dergleichen zu schaf- 
fen? In der Umbildung älterer Volkslieder betätigte sich 
noch solche Triebkraft, am schönsten in der eigenartigen 
Mischung der Grundgefühle bei dem von Soldaten viel 
gesungenen: 
„Ich hatt' einen Kameraden, 
Einen bessern find'st du nicht. 
Die Trommel schlug zum Streite, 
Er ging an meiner Seite. 
Gloria, Viktorial! 
Mit Sing und Sang die Welt entlang — 
Die Väéglein im Walde, die sangen so wunderschön. 
In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn!“ 
Die neu gedichteten Texte zur Wacht am Rhein, zum 
Niederländischen Dankgebet und anderen älteren Weisen, 
im einzelnen gewiß oft gut angepaßt, erlangten dennoch 
keine dauernde Volkstümlichkeit. Bei manchen ganz neuen 
Liedern wurde der volkstümliche Ton glücklich getroffen: 
„Unser Hauptmann geht nach Flandern, wer geht mit?“ 
— „Wenn wir erst wieder heimwärts ziehn!“ (Gedichte 
von W. Busch und W. Ostwald in Leipzig, die Weise, 
wie es sehr bezeichnend ohne Namensangabe heißt, von 
einem deutschen Sangesbruder). Aber bleibendes Gemein- 
gut des Volks sind auch sie nicht geworden. Schon etwas 
höhere Ansprüche stellten Lieder wie R. Dehmels Fahnen- 
lied (Es zieht eine Fahne vor uns her, herrliche Fahnel). 
Dazu kamen nun Gesangskompositionen und Instru- 
mentalmusik mit der vollen Verwendung der alles mächtig 
Gesteigerte, alles Zarte und Innige, das Düstere, aber 
auch das Heitere und Kecke wiedergebenden Klangformen 
moderner Musik. Gust. Wohlgemuth in Leipzig, der soeben 
den Domchor für die Sangesaufführungen im Völber- 
schlachtdenkmal gegründet hatte, bot Wertvolles; auch der 
durch seine wundervolle Kunst frei erfindenden Orgelspiels 
ausgezeichnete Universitätskirchenorganist Ernst Müller, 
dessen Kompositionen der Paulus (Universitäts-Sänger- 
schaft) einmal einen besonderen Abend widmete, sei ge- 
nannt; ungemein originell charakteristisch war H. Barges 
Vertonung des bekannten österreichischen Reiterlieds von 
Juckermann. Solche Schöpfungen der Kunstmusik werden 
noch bünftigen Zeiten Beispiele sächsischer Musik aus der 
Weltbriegsepoche sein können. Bei der Tiefe der Gefühle 
und dem heiligen Ernst, der die ganze Zeit durchdrang, 
fand sie ihren beseeltesten Ausdruck in der Musica sacra. 
Sachsens Kantoren, schon seit der Reformationszeit ver- 
dienstvolle Mitschöpfer der musikalischen Kultur Deutsch- 
lands, ergriffen die Aufgaben, welche die Kriegozeit stellte: 
in mannigfachen Tonsätzen für Orgel, Einzelgesang und 
Chor, auch für Instrumente, ließen sie fromme Erhebung, 
Leid und Seelentrost, Andenken an die Gefallenen in stren-
	        
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