Wieviel Freude und Trost ist durch all das bereitet worden!
Die bibeldruckenden Gesellschaften, unter ihnen die Säch-
sische Bibelgesellschaft in Dresden, sorgten für Schriften-
verbreitung: in Hunderttausenden von Exemplaren wurde
das Neue Testament, oft mit den Psalmen als Anhang,
unter sächsischen Feldgrauen verteilt; Beobachtungen, die
gemacht worden sind, bezeugen, daß es wirklich gelesen
ward, ja wohl das gelesenste Buch draußen im Felde war.
Wie die anderen Wehrfähigen, so erhielt auch ein be-
trächtlicher Teil der Pastoren Sachsens Gestellungs-
befehl. Der Bestimmung gemäß sollten Geistliche, die be-
reits in ihr Amt eingewiesen waren, soweit sie nicht als
Feldgeistliche in das Heer eintraten, bei der Krankenpflege
beschäftigt werden, nicht um der Schonung willen, sondern
weil nach früher geltenden Anschauungen der Waffendienst
von Geistlichen nicht angemessen erschien. Indes bei den
jungen Theologen war der Wunsch rege, nicht solchen
vermeintlichen Vorzug zu genießen, vielmehr in Reih und
Glied mit den anderen die Gefahren und Mühen des Sol-
datenlebens zu teilen; so machten viele eingereiht unter den
Mannschaften und Offizieren des Frontheers den Welt-
brieg mit.
Infolge dieser Einberufungen ward die Arbeitslast der
Daheimbleibenden beträchtlich vermehrt, um so merklicher,
da der Krieg neue mühevolle Tätigkeit ihnen auferlegte. Nach
außen ward am meisten die gottesdienstliche Predigt wirk-
sam; sie war eine Form wirklich im höchsten Sinn erbauen-
der Rede. Viele dieser „Kriegspredigten“ erschienen
auf Verlangen der Hörer im Druck; um ihren Geist zu kenn-
zeichnen, seien einige Sammlungen herausgegriffen: Ober-
Hofprediger Dibelius in Dresden mit dem Kernwort „Got-
tes Ruf in Deutschlands Schicksalsstunde“; Pfarrer Keß-
ler „Unser Glaube ist Sieg““; die Superintendenten Cordes
und Hartung in Leipzig mit Pfarrer Rüling „Wir treten
zum Beten vor Gott den Gerechten“; Universitätsprofessor
Ihmels „Darum auch wir“; Pfarrer G. Naumann in
Leipzig-Gohlis, der während des Krieges als Professor der
Theologie nach Straßburg berufen ward und sodann als
Flüchtling wieder in die Heimat zurückkehrte, „Stark in
Gott“. Als Predigtterte wurden gern Worte aus dem Alten
Testament, besonders aus den Psalmen, um ihres markigen
Gehalts willen, gewählt; aber auch das Heldenhafte an der
Person Jesu, alles Männliche im Christentum, wurde wir-
kungsvoll betont. Gewiß in solchen Predigten erklang in
vollem, warmem Ton die Liebe zu Volk und Vaterland, zu
Kaiser und Reich; wer hätte es damals verstehen können,
wenn's anders gewesen wäre! Einzelne Außerungen mögen
gefallen sein, in denen, so wird gesagt, wider die Feinde
scharfgemacht wurde, anders als es auf Kanzeln angemessen
war; aber gaben diese nicht in Wahrheit reichlich Anlaß
zu sittlicher Empörung? Auch das Unrecht, das im eigenen
Volke emporwucherte, ward nicht verhüllt! Aus der Er-
fahrung darf es bezeugt werden: Sachsens Geistlichkeit
blieb sich auch in der Weltbriegszeit dessen bewußt, daß
sie nicht Haß, sondern Liebe, nicht Selbstvergötterung der
Nation, sondern eine Menschheitsreligion im Aufblick zu
einem heiligen Gott zu verkünden habe. Weit über das
Friedensmaß hinaus war während des Krieges Seelsorge
in der Gemeinde nötig. Wieviel Segen haben die Geist-
lichen in diesen vier langen, an Kummer und innerer Not
überreichen Jahren an den Seelen gestiftet, wenn sie in
die Häuser zu den einzelnen von Sorge und Leid Heimge-
suchten, zu den um ihre Lieben draußen Bangenden, zu
Witwen und Waisen, zu Kranken und Sterbenden gingen,
um ihnen Worte herzlichsten Mitgefühls, Trost und Kraft
zu bringen! Aber wie schwer war oft der Anblick all
des äußeren Jammers, den sie Tag für Tag sahen, all der
seelischen Not, die sie — nicht wie der Arzt bei einer
Operation mit bühlem Blut — nein, mit wärmstem An-
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teil des Gemüts miterlebten! Und wenn sie auch in
solchem seelsorgenden Verkehr mit ihrer Gemeinde herr-
liche Beweise wahrer Seelengröße, oft gerade auch bei
Menschen ganz schlichter Art, erfuhren, Herzzerreißendes
wühlte sie wieder und wieder innerlich auf, zumal da im
Laufe des Krieges des Klagens immer mehr, des Willens
zum Tragen des Leids weniger wurde und auch die Zweifel
an Gottes Güte und Gerechtigkeit, ja überhaupt an einem
den Christen verständlichen Sinn des Lebens stürmischer
aufbegehrten. — Ein bemerkenswertes Ereignis war übrigens
die Berufung Mar Maurenbrechers zum Prediger der re-
formierten Gemeinde in Dresden; vordem Sozialdemokrat
aus idealistischer Uberzeugung, ward er im Kriege zum
glühenden Vorkämpfer nationaler Staatsgesinnung und zum
Verkünder christlicher Religion in einer freien, über den
Bekenntnissen schwebenden Auffassung.
Neben solch seelischer Fürsorgetätigkeit stand bei der Gelist-
lichkeit Sachsens, alter Uberlieferung gemäß, auch die prak-
tische Hilfeleistung, die soziale Arbeit auf Grund der
christlichen Nächstenliebe. Bei allen größeren Wohltätigkeits-
veranstaltungen in einer Gemeinde wikkten Pastoren und
ihre Frauen mit; aber sie schufen auch besondere Einrich-
tungen für allerhand Hilfsarbeit, wobei an „Kriegsfami-
lienabenden“, im „Mädchenbund“, in den „Kriegsstrickver-
einigungen“ u. dgl. das Nützliche mit Erbaulichem und geistig
Anregendem geschickt verbunden werden konnte. Den Lei-
stungen der kirchlichen Gemeinden und ihrer Leiter gesellte
sich die mannigfaltige Tätigkeit des „Vereins für in-
nere Mission“ mit seinen vielerlei trefflich eingerichteten
Anstalten für die Armsten und solche, die durch Nöte Leibes
und der Seele untauglich zur Selbsthilfe geworden waren;
und manche von ähnlichem christlichen Geist erfüllte Ver-
einigungen standen gleichfalls helfend zur Seite. Beweise
eines echten Heldentums der Gesinnung und zugleich förder-
lichster, praktischer Mithilfe gaben die Diakonissen der
beiden Mutterhäuser Sachsens in Dresden und Leipzig nebst
Schwestern anderer Verbände. An Selbstzucht und Auf-
opferungsfähigkeit gewöhnt, walteten sie still, gelassen und
mit fröhlichem Wesen in Lazaretten und Krankenhäusern
sowie im Gemeindedienst und trugen viel dazu bei, die Wun-
den, die der Krieg geschlagen hatte, zu lindern und zu heilen.
Von der hereinbrechenden wirtschaftlichen Not wurde die
Kirche als eine geistige Anstalt nicht so unmittelbar betroffen,
wie dies auf anderen der Güterproduktion dienenden Lebens-
gebieten der Fall war. Doch ein überaus schmerzliches Opfer
mußte sie in der allgemeinen Volksnot bringen, das über
seine wirtschaftliche Bedeutung hinaus die Gemüter aufs
stärkste bewegte: die Kirchenglocken, zum Preise Gottes
geweiht. Sie sind ja nicht geformtes Metall, sondern leben-
dige Wesen. Wie manchem hatten sie zum Tauftag, zur
Einsegnung, zur Hochzeit einen feierlich frohen Gruß g:-
bracht, wie vielen zum letzten ernsten Gang geläutet! Nun
wurde ihrer in einem Abschiedsgottesdienst gedacht; sollte
ihnen versagt sein, Sieg und Frieden einzuläuten?
Ein Ereignis erhebender Art war der evangelisch-luthe-
rischen Kirche Sachsens geschenkt in der vierhundertjährigen
Gedenkfeier der Reformation am 31. Oktober
1917. Sollte sie festlich begangen werden, während draußen
Geschützdonner den Erdboden zittern machte und Protestan-
ten mit Katholiken und Mohammedanern in gemeinsamem
Verteidigungskampf standen? Gewiß, der Feier mußten
stillere Formen aufgeprägt werden; betonen eines engen
Glaubensstandpunkts verbot sich von selbst. Aber Luthers
Bedeutung beruht ja gar nicht in ihrem Wesentlichsten
auf seinem Kampfe gegen Nom, sondern auf dem ge-
waltigen Ringen um eine in ganz persönlicher Heilsgewiß-
beit ruhende Frömmigkeit und eine religiöse Erneuerung
des Christenvolks. Dieser Mann von stärksier Herzens-
festigkeit und Entschlußkraft, dieser wahrhafte Deutsche und