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kurse“ gehalten, zeitweilig vor kleiner Hörerschaft, dann
wieder mit anschwellenden Besuchsziffern, natürlich unter
Anpassung der Vorlesungsgegenstände an den Interessen-
kreis der Kriegszeit. Auch das von den Gewerkschaften
Leipzigs organisierte Bildungswesen mit Bücherausleihver-
behr, Vorträgen und Kursen, auch Konzerten und volks-
tlimlichen Theatervorstellungen bestand fort; ja es war hier
möglich, eine neue Volksbibliothek und sogar eine „Fach-
schule für die Verwaltung und Technik volkstümlicher Büche-
reien“ zu eröffnen, wobei sich der Leiter der städtischen
Bücherhallen W. Hofmann als tüchtiger Fachmann nam-
haftes Verdienst erwarb. Nur unmittelbar nach Kriegsaus-
bruch war das Lesebedürfnis zurückgegangen; später hob
es sich wieder und stieg bei manchen Lesern über die
Gewohnheit der Friedenszeit. Erst spät wurde eine weiter
ausgedehnte amtliche Tätigkeit für „Aufklärung“ einge-
richtet im engen Anschluß an die Dienststellen für Be-
handlung der Preßangelegenheiten. Vornehmlich wandte
sie sich den Fragen zu, die von unmittelbarer Bedeutung
für den Kriegsverlauf werden konnten; doch bot sich auch
Gelegenheit zu Vorträgen aus der Heimatkunde und Ge-
schichte u. ä. von allgemein bildendem Wert, auch eine
Sammlung dafür geeigneter Lichtbilder wurde angelegt. Nur
wenig erhellt über den Erfolg dieser Bemühungenzoft war es
wohl für nachhaltige Wirkung bereits zu spät. Aber manche
lehrreiche Erfahrung wurde gesammelt; und wenn auch
durch manch Trübes der letzten Kriegezeit noch verdeckt,
trat eindringlich und groß eine Aufgabe der Zukunft her-
vor: Hebung der Volksbildung unter Wahrung der Lehr-
und Lernfreiheit, weitherzig gefördert von Staat und Ge-
meinde mit planvoller Erfassung der besten bhierfür verfüg-
baren Kräfte.
III. Vom Krieg zum Frieden
Begeisterung, die aus tiefer seelischer Erregung auf-
flammend emporschlägt, ist stärkster Wirkungen fähig; aber
auf die Dauer bedeutsamer ist die Kraft zu ruhig ge-
messener Erfüllung der Pflicht. So hat nach Kriegs-
ausbruch 1914 in der plötzlich riesengroß emporwachsenden
Gefahr des Volkes und Vaterlands die geistige Erregt-
heit mit ihrer Einmütigkeit des Sinns, ihrer Hilfs= und
Opferbereitschaft und ihrer entschlossenen Willenskraft mäch-
tige Wirkung getan; sie ist das Hehrste und Schönste,
was Sachsen und mit ihm ganz Deutschland in der Welt-
kriegszeit erlebt hat. Aber noch wichtiger war die Be-
währung solcher Gesinmung in der nun kommenden langen
und, wenn auch neue Begeisterungswellen hereinfluteten,
bisweilen doch recht nüchternen Zeit der Kriegsnot.
In diesen vier schweren Kriegsjahren haben die geistigen
Mächte des Lebens, Presse und Buchwesen, Wissenschaft
und Kunst, Kirche, Schule und Volksbildungspflege, trotz
aller äußeren und inneren Hemmungen aufs tapferste
standgehalten und sind treu auf ihrem Posien gewesen, um
dem von den Feinden ringsum und den Gefahren in der
eigenen Brust arg bedrängten Volke tüchtigen Helferdienst
zu tun. Deutsche Kultur haben sie verteidigt wider gegne-
rische Verunglimpfung, den Beweis bewunderungswürdiger
Leistungsfähigkeit deutschen Geistes unter schwierigsten Um-
ständen vollgültig erbracht. In den wachsenden Kümmer-
nissen des täglichen Lebens, in der steten Entbehrung so
viel altgewohnter Freude, deren das Menschengemüt zur
Auffrischung dringend bedarf, bei dem heimlich lastenden
Druck der Seele, bei den niederschmetternden Nachrichten
von Krankheit und Tod haben jene Spenderinnen geistiger
Werte immer von neuem sLicht und farbigen Wechsel in
das Gleichmaß der Tage gebracht. Immer wieder führten
sie auf die Höhen weltweiter Betrachtung und boten Auf-
klärung über vieles Unverständliche in den Vorgängen
dieser oft kaum begreiflich erscheinenden Zeit. Die Schätze
edelsten geistigen Gutes aus der Vergangenheit des eigenen
Volkes und aus fremden Zonen tischten sie als köstliche
Gaben auf; mit warmen reinen Klängen füllten sie die
Seele, sie ließen die tiefen Gefühle des menschlichen Herzens
zu abgeklärter Aussprache kommen, sie lehrten mit bellem,
scharfem Blick in diese wunderliche Welt schauen, um selbst
die Schönheit, die sich im Grausigen offenbart, sehen zu
können. So wirkten sie befreiend, tröstend, erhebend und
zeigten, was ein Volk vermag, das in der kriegerischsten
Anspannung, welche die Weltgeschichte kennt, mit seiner
auf geistige Kultur eingestellten Lebensführung durchhält.
Aber es scheint ein Lebensgesetz zu sein, daß stets Gegen-
sätzliches sich Bahn bricht. Der Krieg, der Millionen zu
gleichem Dienst ziwang, der in noch nie dagewesener Weise
sogar die Nahrung und anderen Lebensbedarf der einzelnen
auf gleiche Ration setzte, der den furchtbaren Gleichmacher
Tod durch die Lande schreiten sah, trieb andererseits die
ungeheuerlichsten Gegensätze hervor.
So erlag auch der Geist von 1914 dem Gesetze des
Wandels. Wo vordem Begeisterung geherrscht hatte, trat
vielfach Ernüchterung ein; die frische Kraft seelischen
Schwungs erlahmte, Erscheinungen der Abspannung und
Ermüdung wurden weithin sichtbar. Die herrliche Ein-
mütigkeit in der Gesinnung des ganzen Volbs während der
ersten Wochen des Krieges geriet ins Wanken und be-
gann zu zerfallen. Hatte schon einst in der Vorkriegszeit
heftiger Streit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Parteien, klaffende Verschiedenheit der Anschauungen über
das, was in Staat und Gesellschaft sein soll, geherrscht,
so trieb dieser Kampf um Sein oder Nichtsein die vor-
handenen Gegensätze schließlich erst recht hervor: die An-
hänger der Vaterlandspartei, der gemäßigteren Richtungen
innerhalb des Bürgertums, der Sozialdemobratie dachten
über die Friedensmöglichkeit und die Art der künftigen
„Neuorientierung““ im Staate allzuverschieden, als daß
ein leidenschaftsloses gemeinsames Zusammenwirben noch
weiter möglich geblieben wäre. Aber nicht nur der innere
Zusammenhalt des Volkes lockerte sich auf, auch das
Vertrauen zu der politischen Führung, zu der unbe-
dingten Richtigkeit und Notwendigkeit der von der Re-
gierung gefaßten Entschlüsse war nach mehrfachem
Wechsel leitender Persönlichkeiten nicht mehr das gleiche,
wie im Beginn des Krieges; endlich schlich sich sogar ein
gewisses Mißtrauen gegen die Oberste Heeresleitung ein.
Auch die freudige Opferbereitschaft für die Gesamtheit fing
an zu schwinden; ja schon regte sich der Zweifel, ob nicht
alles Opfern vergeblich sei. Man fügte sich bei den Geboten
des Staates der harten Notwendigkeit, und wenn für
Zwecke der Wohltätigkeit wieder und wieder um Hilfe ge-
beten wurde, gab man zu den neu ersonnenen „Spenden“
oft nur mit lahmer Hand. Schon ward es wieder zur Ge-
pflogenheit, vor allem Forderungen für sich zu stellen und
das eigene Recht zu betonen. Im geheimen aber war des
Klagens und Naunens viel über die großen und bkleinlichen
Nöte der schweren Zeit und die traurigen Aussichten auf
baldige Besserung; und wenn der Mund schwieg, verriet
der Gesichtsausdruck oft die gelassene Resignation. Um
so drückender mochte die Last, die man selbst trug, scheinen,
wenn man zu sehen glaubte, wie es dem lieben Nächsten
soviel besser ging; denn ungleich verteilte der Krieg seine
Güter: Wo der eine Unersetzliches verlor, fiel dem andern
reichlich Gewinn zu. Am bedenklichsten war der Niedergang
der öffentlichen Moral. Niemals zuvor waren soviel
tausenderlei Satzungen und Bestimmungen von Amts
wegen getroffen worden, niemals stand die Bevölkerung
unter so strenger Strafandrohung; und doch war nie
vordem so oft und so allgemein wider das geltende Recht
gehandelt worden, wie in der Spätzeit des Kriegszustandes: