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Die sächsische Industrie im Kriege
Von Dr. Johannes März, Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller, Dresden
Über die Entwicklung und die Leistungen der sächsischen
Industrie in den Kriegojahren wird eine ausführliche Dar-
stellung späteren Jahren vorbehalten werden müssen. Denn
noch sind nicht alle Unterlagen bekannt und gesichtet, aus
denen man das Bild zusammenstellen kann, aus welchem
das Schicksal der sächsischen Industrie während des Krieges
in allen Einzelheiten ersichtlich ist. Auch ist mit dem Ende
des Krieges durch den Waffenstillstand die Kriegs-
geschichte der Industrie durchaus nicht abgeschlossen,
da im Wirtschaftsleben die endgültigen Wirkungen solcher
Ereignisse sich immer erst später zeigen. Selbst wenn die
Revolution nicht gekommen wäre, hätten erst die auf
den Krieg folgenden Jahre ergeben, welche tiefgreifenden
wirtschaftlichen Veränderungen er herbeigeführt hat; eins steht
aber heute sehon sicher fest, daß die auf den Krieg folgende
Revolution die ohnehin schweren Wunden des Krieges noch
erbeblich verschlimmert hat, ja, es ist mit größter Wahrschein-
lichkeit anzunehmen, daß alle * Kriegsjahre nicht so einschnei-
dende Wirkungen auf Industrie und Handel ausgeübt haben,
als sich im Gefolge der Revolution ergeben werden, da diese
den möglichst ungestörten Ubergang in die Friedenswirtschaft
verhindert, die Durchführung einer geordneten Ubergangs-
wirtschaft vernichtet, durch sinnloses Streiken die Kohlen-
versorgung der Industrie und ihren raschen Wiederaufbau
unmöglich gemacht und durch das lÜbermaß der Forde-
rungen der Arbeiter und Angestellten selbst Unternehmungen
ungeheuer geschwächt hat, die während des Krieges sich gut
entwickelt hatten, während viele von den durch die Kriegs-
wirkungen ohnehin geschwächten Unternehmungen, die sich
vielleicht hätten wieder aufrichten können, um ihre Eristenz
nunmehr schwer kämpfen müssen. Da diese Wirkungen der
Revolution sich heute indessen noch in beiner Weise übersehen
lassen, soll im folgenden nur die Zeit Lom 1. August 1914
bis zum Ausbruch der Revolution im November 1018 be-
trachtet werden. Aber auch für diese Zeit kann in den vor-
liegenden Zeilen nur in großen Umrissen dargestellt
werden, was die sächsische Industrie im Kriege geleistet,
wie einzelne ihrer Zweige gelitten haben, und welche un-
gemein schwierigen Aufgaben sie bewältigen mußte,
um unter den fortgesetzt sich verschlechternden Verhältnissen
ihre Eristenz zu behaupten, mitzuwirken an dem heroischen
Widerstand des deutschen Volkes, gegen eine Welt von Wef-
fen und durchzuhalten, so gut es eben ging, immer in der
Hoffnung, daß ein günstiger Ausgang des Krieges auch dem
Wirtschaftsleben einen neuen Aufschwung bringen würde.
Überblickend kann man sagen, daß die sächsische In-
dustrie im Kriege schwer gelitten hat, wahrscheinlich
mehr als die anderer Bundesstaaten. Denn in Sachsen sind
im Frieden fast 60 % der Bevölkerung industriell und im
Bergbau beschäftigt, gegen 4300 im Reichsdurchschnitt. Von
35331 Betrieben, die im Jahre 1913 von der sächsischen
Gewerbeaufsicht gezählt wurden, waren am gleichen Zäb-
lungstermin 1918 (1. Mai) nur noch 24013 vorhanden,
die Arbeiterzahl sank von 330 208 in 1913 auf 316 017
im Jahre lols. Zugenommen hat nur die Jahl der weib-
lichen Arbeitskräfte, die von 255•073 in 1913 auf 293 101
in 1918 anstieg. Bei der Zahl der Betriebe ist allerdings
zu berücksichtigen, daß auch alle Handwerks betriebe, die
mit motorischer Kraft arbeiten, mitgezählt sind, und daß
bei diesen naturgemäß die Zahl der wegen Einberufung des
Inhabers geschlossenen oder eingegangenen Betriebe am
größten ist. Aber auch rein industrielle Unternehmungen
haben in großer Zahl durch den Krieg gelitten, namentlich in
denjenigen Gewerbezweigen, in denen, wie in vielen Betrieben
der Textilindustrie, in den Veredelungs= und Lurusgewerben,
der Krieg die Produktions= und Absatzmöglichkeiten entweder
sofort, oder doch nach und nach völlig vernichtet hat. Die
Tertilindustrie, zu einem großen Teil feine Qualitätsware
auch für den Export in bedeutendem Umfange herstellend, um-
faßt fast ½ der Betriebe der sächsischen Industrie, die
Maschinenindustrie mit ihren Spezialitäten, das Gewerbe
der Metallverarbeitung, die Lederwaren= und Papierindustrie
mit ihren hunderten von Gegenständen des täglichen Be-
darfes und des verfeinerten Kulturlebens, die Holzindustrie,
das graphische Gewerbe, sahen sich, wie andere Zweige des
sächsischen Erwerbslebens, z. B. des Baugewerbes, vor den
größten Schwierigkeiten, die mit der langen Dauer des
Krieges sich ständig vergrößerten.
Überblickt man den Verlauf der Entwicklung von 1914
bis 1918, so zeigen sich deutlich fünf Perioden, denen
nach Abschluß des Waffenstillstandes und dem Ausbruch der
RNevolution sich die sechste und verwüstendste anschließt.
1. Die Periode der Verwirrung und des völligen Still-
standes des Erwerbslebens bei Kriegsausbruch (1. August
bis Mitte September 1914).
2. Die allmählich einsetzende Wiederbelebung der Wirt-
schaft nach Überwindung des ersten Schreckens (September
bie Ende 1914).
3. Die Periode der Umstellung der Industriebetriebe auf
die Kriegsarbeit (Ende 1914 bis Ende 1019). .
4. Die Periode der Einrichtung der staatlich organisier-
ten und kontrollierten Zwangowirtschaft und der Ersatz-
wirtschaft unter dem Eindruck der steigenden Rohstoffbnapp-
heit (Ende 1919 bis Ende 1910).
5. Die Periode des allmählichen Erliegens der Industrie
und des starken Rückganges auch der reinen Rüstungs= und
Kriegsindustrie infolge Mangels an Rohstoffen und des
Rückganges der Produktion in der Kohlen= und Eisenindustrie.
Diie erste Periode
Stillstand der Wirtschaft infolge des Kriegsausbruches
Die erste Periode beginnt mit dem Ausbruch des
Krieges und ist für einzelne Industriezweige von kürzerer,
für andere von längerer Dauer gewesen. Wenn man heute
an diese Augusttage von 1914 zurückdenkt, so sieht man
auf der einen Seite das Aufschäumen vaterländischer Be-
geisterung und unbegrenzter Opferwilligkeit und Hingabe
des ganzen Volkes an das große gemeinsame Ziel der Ver-
teidigung des Vaterlandes gegen die Angriffe einer mäch-
tigen, in zielbewußter Arbeit deutschfeindlicher Staatsmänner
vorbereiteten Koalition, auf der anderen Seite ein voll-
kommenes Stocken des. wirtschaftlichen Kreis-=
laufes. Wie mit einem Schlage war die Tätigkeit von In-
dustrie, Gewerbe und Handel lahmgelegt. Aus den Kon-
toren und Werkstätten strömten die Angestellten und Ar-
beiter, und in vielen Fällen auch der oder die Inhaber und
Betriebsleiter, dem Heere zu, um ihrer Wehrpflicht zu ge-
nügen, und diese plötzliche Entziehung wichtiger Arbeits-
kräfte in Verbindung mit den anderen Erscheinungen der
ersten Zeit brachten das rege Leben zum Stillstand, das
bisher in Kontoren, Werkstätten, Lagerräumen usw. ge-
herrscht hatte. Die Sufuhr von Rohstoffen, die Abfuhr von
Fabrikaten wurde vollständig eingestellt, weil die gesamten
Verkehrsmittel der Eisenbahn für den Aufmarsch der deut-
schen Armeen gebraucht wurden. Warensendungen blie-
ben liegen, wo sie sich eben befanden, kein Mensch vermochte
zu sagen, ob oder wann auf ihre Weiterbeförderung gerechnet
werden konnte. Sendungen, die sich in großer Zahl nach
dem feindlichen Auslande unterwegs befanden, wurden an-
gehalten, weil sofort Ausfuhrverbote erlassen werden