Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

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und Handelsbetriebe, die sich in plötzlicher Schließung des 
Betriebes, Entlassung von Arbeitern und Angestellten oder 
sonstigen überstürzten Maßnahmen äußerte und zur Arbeits- 
losigkeit vieler Angestellter und Arbeiter führte, die nicht 
sofort zum Kriegsdienst eingezogen wurden. 
Hinsichtlich dieser letzteren trat allmählich auch eine große 
Rechtsunsicherheit darüber ein, ob die Einziehung zum 
Kriegsdienst das Anstellungsverhältnis ohne weiteres 
auflöse und daher Fortzahlung des Gehaltes nicht erforder- 
lich sei. Vielfach war die Meinung verbreitet, es handele 
sich auf seiten der Angestellten um ein „unverschuldetes Un- 
glück“, so daß die Gehaltszahlung noch auf 6 Wochen er- 
folgen müsse und der Angestellte auch den Anspruch auf 
seine Stelle behalte. Die Frage hat sich dann meist im Wege 
gütlicher Vereinbarung lösen lassen, indem in den 
meisten Fällen die Zahlung erfolgte und von seiten der 
führenden Banken und Industrieunternehmungen auch für 
die zurückbleibenden Angehörigen der Arbeiter und Ange- 
siellten in weitestgehender Weise durch Unterstützung gesorgt 
wurde, soweit sie finanziell irgendwie dazu in der Lage 
waren. An die nicht zum Heeresdienst einrückenden Ange- 
stellten und Arbeiter wurde das Ersuchen gerichtet, auf einen 
Teil ihrer Bezüge zu verzichten, um daraus einen Fonds 
für die zurückbleibenden Angehörigen der eingezogenen Ar- 
beiter und Angestellten zu bilden. Für die im Betriebe ver- 
bleibenden Arbeiter und Angestellten bestand natürlich das 
gesetzliche Kündigungsverhältnis weiter, und es wurde im 
Falle der Entlassung scharf geprüft, ob der Unternehmer 
durch den Krieg ohne weiteres zur Einstellung seines Be- 
triebes gezwungen war. Vielfach wurde, wie erwähnt, der 
Betrieb im ersten Schrecken ganz eingestellt; in den meisten 
Fällen begnügte man sich aber mit einer Verkürzung der 
Arbeitszeit und einer Herabsetzung der Löhne nach vor- 
heriger Verständigung mit den Arbeitern. 
Trotzdem trat natürlich in dieser ersten Periode eine 
ausßgedehnte Arbeitslosigkeit ein. Auf dem säch- 
sischen Arbeitsmarkt stieg die Zahl der Arbeitsuchenden auf 
loo offene Stellen von 150,46 im Juli 1914 auf 510, 88 
im August 1914. Die Arbeitslosigkeit war in den verschie- 
denen Bezirken Sachsens allerdings verschieden groß. Es 
kamen auf 100 offene Stellen Arbeitsuchende in 
Juli 1914 August 1014 
Chemnitz 118,64 336,04 
Dresden 202,41 620,48 
Leipzig 133,73 402,52 
An dieser großen Arbeitslosigkeit waren insbesondere auch 
die Frauen beteiligt, deren gewerbliche Beschäftigung in 
Sachsen von jeher sehr umfangreich war. 
Die Frage, wie der Arbeitslosigkeit abzuhelfen wäre, be- 
schäftigte damals die Offentlichkeit auf das Lebhafteste, denn 
man befürchtete, daß dieser Zustand während des ganzen 
Krieges anhalten würde. Man richtete an die Verbraucher 
den dringenden Appell, mit Bedarfsdeckungen nicht zu- 
rückzuhalten; jeder, dessen Kaufkraft durch den Krieg nicht 
geschwächt wäre, sollte mit Käufen und Bestellungen nicht 
zurückhalten. An die Regierungsstellen, Gemeinden, Be- 
hörden, staatliche Institute ging die Aufforderung, sofort 
Notstandsarbeiten einzurichten, begonnene Bauten fort- 
zuführen, geplante zu beginnen. Ebenso wurde eine Ver- 
schiebung der Arbeitslosen innerhalb der einzelnen Industrie- 
zweige veranlaßt, namentlich in diejenigen, welche Notstands- 
arbeiten zu erwarten hatten und in diejenigen, welche für 
das Heer sofort arbeiten bonnten. 
Es war allerdings in Sachsen nur ein verhältnismäßig 
kleiner Teil der Industrie, der schon in dieser ersten Periode 
des Krieges einen gewaltigen Aufschwung in der Beschäf- 
tigung nahm, die eigentliche Rüstungsindustrie. Diese 
Betriebe, welche für die Ausstattung des Heeres schon in 
Friedenszeiten gearbeitet und meistens durch Vertrag mit den 
Militärbehörden Lieferungsverpflichtungen, sogenannte Mo- 
bilmachungsverträge übernommen und sich verpflichtet 
batten, für den Fall des Kriegsausbruches in bedeutendem 
Umfange bestimmte Artikel zu liefern, stellten in Sachsen 
nur eine verhältnismäßig kleine Zahl dar. Sachsens In- 
dustrie hatte im Frieden nie Kanonen und Granaten her- 
gestellt oder Panzerplatten, U-Boote, schtvere Munitions= 
wagen usw. geliefert. Dagegen bestanden Fabriken für die 
Ausrüstung der Mannschaften und die Ausstattung der 
Regimenter mit den verschiedensten Artikeln. 
Auch diese Betriebe waren übrigens in den ersten Wochen 
des Krieges durch die allgemeine Lähmung des Verkehrs 
gehindert, sofort ihre ganze Wirksamkeit zu entfalten. Aber 
sie hatten wenigstens Aufträge, während die bei weitem 
überwiegende Zahl der sächsischen Industriebetriebe in dieser 
ersten Periode plötzlich vor ganzen Stößen annullierter Auf- 
träge und vor dem Verlust ihrer Auslandsmärkte in den 
feindlichen und überseeischen Ländern standen. Die all- 
gemeine Unsicherheit in dieser ersten geit nach 
Kriegsausbruch war um so größer, als niemand die wei- 
tere Entwicklung einigermaßen vorhersagen konnte. Zwar 
war das Vertrauen in die deutsche Wehrmacht unbegrenzt 
und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende allgemein. 
Gerade sie aber hat dazu beigetragen, daß die Dispositionen 
für Umstellung der Betriebe auf Heereslieferungen nicht 
so schnell getroffen wurden, wie das vielleicht erfolgt wäre, 
wenn man die lange Dauer des Krieges vorausgesehen 
bätte. Das ungemein Plötzliche des Kriegsausbruches, auf 
den in Deutschland niemand vorbereitet war, machte die 
Verwirrung besonders groß. Eine Fülle von nicht erfüllten 
Ansprüchen, nichtbegebenen Leistungen, neuerstandenen Ver- 
pflichtungen, die Unsicherheit der Gegenwart und Zukunft, 
machten selbst bei sonst geordneten Verhältnissen einen Über- 
blick über die zu treffenden Dispositionen unmöglich und ver- 
mehrten das Durcheinander. Für die in Sachsen bedeutende 
Erportindustrie eröffneten sich wenig tröstliche Per- 
spektiven. Ungezählte Ausfuhrgüter, die gerade unterwegs 
waren, blieben liegen, es wurde ihre Annahme z. B. für 
Schiffsladungen verweigert, und sie kamen später zurück. 
Und was an Exportaufträgen in diesen Betrieben vor- 
handen und in der Ausführung begriffen war, wurde selbst- 
verständlich sofort eingestellt, da niemand klar sehen konnte, 
wie es mit der Abnahme der gestellten Anträge selbst bei 
neutralen Bestellern einmal werden würde. Der sofort ein- 
setzende Wirtschaftskrieg Englands und seiner Bun- 
desgenossen zerriß alle Fäden, die ung mit dem Auslande in 
so großer Zahl verbanden, sehr rasch, hemmte die unter- 
wegs befindlichen Zufuhren, trieb die auf den Meeren fahren- 
den deutschen Schiffe in den nächst erreichbaren neutralen 
Hafen und verschloß in seiner raffinierten Durchbildung 
und seinem unerhörten völkerrechtswidrigen Druck auf die 
Neutralen nach und nach sämtliche Türen, durch welche 
Deutschlands und Sachsens Wirtschaft bisher mit dem Welt- 
markt in Verbindung gestanden hatte. 
Bezeichnend für den Pessimismus und die Lähmung des 
geschäftlichen Unternehmungsgeistes war auch die Stellung- 
nahme zur Leipziger Herbstmesse, deren Eröffnungs- 
termin bald nach Kriegsausbruch (Ende August 1914) lag. 
Angesichts der Tatsache, daß Deutschland nicht wie 1870 
einem Gegner, sondern einem Ring von solchen gegen- 
lberstand und mit Rücksicht auf die schwierigen Transport- 
verhältnisse, die Paßschwierigkeiten, die notwendige um- 
ständliche Kontrolle gegenüber Ausländern wegen der Spio- 
nageversuche, glaubt man in industriellen und Handelokreisen 
nicht, daß ein nennenswerter Besuch der Messe stattfinden 
wlirde. Man schlug daher vor, sie ausfallen zu lassen. Aller- 
dings wurde diesem Antrage nicht stattgegeben, der Nat 
der Stadt Leipzig entschied sich dafür, die Messe statt- 
finden zu lassen, mit der Begründung, daß es auf wirt-
	        
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