425
Die Umwälzung in Sachsen nach dem Kriege
Von Dr. Herbert Schönebaum
Vorwort
Die folgenden Ausführungen geben eine objektioe partei-
lose Darstellung der Entwicklung der Verhältnisse seit Ok-
tober lols. Der kolossale Umschwung, verbunden mit der
Liquidation des Krieges, schuf auch in Sachsen eine völlig
veränderte Lage. Es ist versucht worden, aus dem Wust un-
sicheren Tastens und Versuchens das Wichtigste herauszu-
greifen. Gern wäre der Verfasser auch noch interessanten
Einzelheiten nachgegangen. Er mußte sich dies versagen,
da das vollständige Quellenmaterial naturgemäß gesperrt
ist. Die Darstellung reicht mit zulänglicher Vollständigkeit
bis zur Verabschiedung der vorläufigen Verfassung durch die
Volkskammer, womit im großen die Umwälzung vorüber
ist. Spätere Maßnahmen der Regierung und Volbskammer
sind am Schluß tabellarisch zusammengestellt. Möge diese
erste geschichtliche Darstellung der Revolutionszeit einiger-
maßen Klarheit über die Entwicklung der Dinge bringen.
Abkürzungen
Staatszeitung = Sächsische Staatszeitung (die Nummern
des Jahres 1919 erhalten?, sonst ist immer 1018 gemeint).
Mitt. l. (II.) Kammer —= Mitteilungen über die Verhand-
lungen des ordentlichen Landtags im Königreich Sachsen
während der Jahre 1917—1918, I. und II. Kammer.
Verh. d. Volkskammer — Verhandlungen der Volks-
kammer. ·
Verichteusw.-Berichkeder11.Kammer(Volkskammer).
Vorlagen usw. — Vorlagen der Regierung an die Volks-
kammer.
I. Die Luspitzung der Lage im Oktober 1018
Die unglaublichen Anstrengungen eines Krieges von nie
gekannter Härte und Schärfe, die dauernden Entbehrungen
eines durch Blockade eingeschlossenen hungernden Volkes,
die durch den langen Krieg mit Folgerichtigkeit eingetretenen
wirtschaftlichen Gegensätze hatten im deutschen Volke eine
seelische Erschütterung gezeitigt, die sich im Fühlen und
Wollen der Menschen an allen Stellen zeigte. Der schwache
geplagte Körper beherbergte keine gesunden Nerven mehr.
Diese Lage war seit langem in Unverantwortlichkeit von
radikalen Agitatoren ausgenutzt worden, die in zielbewußter
Arbeit daheim und an der Front die Gegensätze vergrößer-
ten. Das Treiben dieser Leute war nicht unbekannt geblieben,
zu schwach waren die Mittel ihm entgegenzutreten, zumal
durch die Erschöpfung wirtschaftlicher Quellen die Zufuhr
an Munition und Verpflegung für die Front nicht mehr
ausreichte und der Truppenersatz körperlich wie seelisch
ganz besonders an Güte nachließ. Die Front wankte seit
Juli 1918, und nirgends gab es mehr Halt. Zwar stand
das Heer noch in Feindesland, und die Gegenwehr war an
einzelnen Frontteilen oft recht beachtlich, aber im ganzen
konnten die wenigen erfreulichen Anzeichen eines zähen
Willens den Sturz nicht aufhalten. Noch schlimmer stand
es bei unsern Bundesgenossen. Bulgaren und Türken, die
österreichischen Völker waren noch briegsmüder als wir.
Sie warfen die Waffen zeitiger weg, und an allen Fronten
kamen die deutschen Truppen in schwere Gefahren. Die
Oberste Heeresleitung wollte noch zuletzt die Dinge durch
den Ruf nach nationaler Verteidigung aufhalten. Zu mäch-
tig war die Konsequenz geringer Willensstärke, und so muß-
ten auch wir zu dem folgenschweren Schritt eines Waffen-
stillstandsangebotes schreiten. Diese Tat gab der wartenden
Heimat den letzten Stoß. Jeder wußte, daß damit der
Krieg verloren war. Politisch zeigten sich die Folgen mit
einem Schlage. Das alte System war untergraben. Ein
kaiserliches Deutschland hatte es nicht vermocht, seine Ziele
zu erreichen. Die Führer des Volkes waren damit kompro-
mittiert, und der Ruf nach Neuorientierung war zu
laut und offen, zu zwingend, als daß man ihn verhallen
lassen durfte. Die Berufung des Prinzen Maxr von Baden
zum Reichskanzler, die Entlassung Ludendorffs sind Mark-
steine im Geschehen. Das eine bezeichnete die Neuorientie-
rung, das andere bedeutete den Untergang des mili-
tärischen Systems. Die Parlamentarisierung der Re-
gierung, die Versprechen von kaiserlicher Seite her schufen
wohl eine geringe Befriedigung für die, die noch etwas
Nerven behalten hatten. Im ganzen aber lag eine schwere,
fürchterliche Stimmung der Bangigkeit und Ungewißheit
auf dem deutschen Volke. Voller Spannung wurde jeder
Tag erwoartet, der neues Unheil bringen konnte.
Wie im Reich, so auch in den Bundesstaaten schallte
der Ruf nach Neuorientierung. In Sachsen wurde von
seiten der Krone die Lage klar erkannt. König Friedrich
August rief am 2. Oktober das Gesamtministerium
zu einer Sitzung zusammen, ohne daß bekanntgegeben
wurde, was der Gegenstand der Beratung sein sollte
(Staatszeitung 230). Aber sicher ist, daß in dieser Sitzung
die ersten Fühler zur Neuorientierung ausgestreckt wurden,
zumal auch der Kronprinz alo zukünftiger Herrscher bei der
Sitzung zugegen war. In neuer Beratung am H. Oktober
wurde beschlossen, den ordentlichen Landtag auf den 28. Ok-
tober einzuberufen, und das Ministerium des Innern be-
auftragt, eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten, wonach das
bestehende Landtagswahlrecht durch ein solches
auf breiter Grundlage ersetzt werden sollte
(Staatszeitung 236). Die Sitzungen wiederholten sich am
17. und 22. Oktober (Staatszeitung 243, 247). In der
letzteren wurde schon über die künftige Gestaltung der Re-
gierung gesprochen. Der König behielt sich weitere Ent-
schließung vor. Die nächsten Tage müssen die Entscheidung
gebracht haben. Das Ministerium des Innern war mit
einem Programm der Neuorientierung beauftragt worden.
Diesem Programm vermochten die Staatsminister Beck und
v. Seydewitz sich nicht anzuschließen. Sie baten darum,
von ihren Amtern enthoben zu werden. Mit Handschreiben
des Königs wurden sie entlassen (Staatszeitung 250). Die
Durchführung der Neuorientierung begann Staatominister
Vitzthum v. Eckstädt, der die Vertreter und Führer
der Mehrheitsparteien zu einer Sitzung zusam-
menrief. Der Direktor der ersten Abteilung des Ministe-
riums des Innern Dr. Schmitt nahm an den Besprechungen
teil, zu denen Landtagspräsident Dr. Vogel, die Abgeordneten
Dr. Niethammer, Dr. Seyfert, „Nitzschke-Leutzsch von der
nationalliberalen Partei, Günther und Brodauf von der
fortschrittlichen Volkspartei, Fräßdorf und Heldt von der
sozialdemobratischen Partei hinzugezogen waren. Es wurde
über die Bildung eines Staatorats verhandelt, der über
neuzubildende Ministerien (Arbeits-, Verkehrsministerium)
und über die Abtrennung des Unterrichtsministeriums vom
Kultusministerium Beschluß fassen sollte. Der Staatsrat
sollte noch vor dem Landtag zusammentreten (Staatszeitung
250). Die Parteiführer nahmen darauf Fühlung mit ihren
Parteien und verlangten in einer weiteren Sitzung Re-
form der ersten Kammer, allgemeines, direk-