Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

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geordneten, und einstimmig war die Annahme der Pro- 
grammpunkte. Ja, der Regierung wurden eine Menge 
Richtlinien für Überwindung der Ernährungsschwierigkeiten, 
die Notlage der Industrie und der Gefahren zu schneller 
Demobilisation gegeben. 
Die übrigen Arbeiten des sterbenden Landtags waren 
nichtiger Natur. Jetzt muß man dem Abgeordneten Posern 
recht geben für seine Anregung, die er am 8. November, 
dem Tage der letzten Sitzung der zweiten Kammer, gab, 
den Landtag zu vertagen, damit jeder, wo das Deutsche 
Reich in Flammen stünde, in seiner Heimat am rechten 
Platze sei (Mitteilungen der II. Kammer, Seite 2251). 
Seiner Anregung wurde nicht stattgegeben. Der Landtag 
trat nicht mehr zusammen, ohne aufgelöst und vertagt zu 
sein. Am Abend nach der letzten Sitzung brach in Dresden 
die Revolution aus. 
Das Verhalten der Parteien zu den Plänen der 
Neuorientierung ist im wesentlichen bei der Schilderung der 
Verhältnisse dargestellt worden. Es sei nur noch einiges 
nachgeholt. Noch ehe Dr. Heinze den Programmpunkt der 
Anderung des Gemeindewahlrechts anführte, noch ehe die 
sozialdemokratische Interpellation über den gleichen Punkt 
erfolgte, forderte die Leipziger Ortsgruppe der Fortschritt- 
lichen Volkspartei das Verhältniswahlsystem für die Ge- 
meinden (Staatszeitung 239). — Nachdem Dr. Spieß im 
Namen der konservativen Fraktion den Vorstoß gegen die 
Parteilichkeit des Präsidenten wegen der Nichtbeteiligung 
bei der Parlamentarisierung der Regierung unternommen 
hatte, richtete Dr. Böhme einen persönlichen, aber durchaus 
sachlichen Brief an die sozlaldemobratische Fraktion und 
forderte in der schwersten Zeit des deutschen Volkes die 
politische Einheitsfront (Staatszeitung 255). 
Die Regierung war auch in gewissen andern Dingen den 
Forderungen der Parlamentarier zuvorgekommen. Am 
15. Oktober war bereits eine umfangreiche Amnestie 
wegen politischer Vergehen, Beteiligung bei Streiks, De- 
monstrationen, Lebensmittelunruhen erlassen und das Justiz- 
ministerium diesbezüglich beauftragt worden, die nötigen 
Schritte zu tun (Staatszeitung 241). Der Erlaß dieser 
Amnestie war aber von vielen falsch verstanden worden, 
denn auch für solche, die wegen anderer Vergehen bestraft 
waren, wurden Gnadengesuche über Gnadengesuche einge- 
reicht, so daß sich die Regierung noch eimmal veranlaßt 
sah, den Geltungsbereich der Amnestie abzugrenzen (Staats- 
zeitung 253). — Auch die Versammlungsfreih eit 
war in Ortgesetzen schon garantiert worden. So wurde 
in Leipzig das im Januar 1918 erlassene Versammlungs- 
verbot von den zuständigen Stellen bis auf weiteres auf- 
gehoben (Staatszeitung 248). 
Langsam bahnten sich auch Zusammenschlüsse von An- 
gehörigen gleicher Berufe an. Im Sine einer Einheitofront 
zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung kam in der 
Oktobermonatsversammlung des Bezirksvereins Dresden im 
Landesverband der Sächsischen Presse der Wunsch auf, 
angesichts der sehweren Lage und der Neuorientierung im 
Neich geschlossen zu den neuen Fragen Stellung zu nehmen. 
Nicht nur die Vertreter bürgerlicher Blätter hatten den 
Wunsch, sondern auch von seiten der sozialdemokratischen 
Presse wurde er geäußert (Staatszeitung 230). Als die 
Verhältnisse verwickelter wurden, beschloß man auf der 
Pressekonferenz künftig gemeinsam mit Vertretern der Re- 
gierung politische und #zwirtschaftliche Tageofragen zu er- 
ledigen und so die innere Zusammenarbeit von Regierung 
und Volk zu fordern (Staatozeitung 253). Es waren das 
alles Schritte der Not, die Maßnahmen waren keineswegs 
organisch und sachlich aus dem Wesen der Dinge hervor- 
gegangen. 
Auch von seiten der Kirche wurde der Geist der Zeit 
verspürt, und alle politischen Maßnahmen wurden scharf 
beachtet. Lag doch für sie die Gefahr nahe, bei einem Um- 
sturz plötzlich ihrer wichtigsten Stütze, des Staats, beraubt 
zu sein. Auf der Versammlung der Sächsischen Kirchlichen 
Konferenz in Chemnitz am 2. Oktober kam deutlich zum 
Ausdruck, daß man sich auf alles gefaßt machen müsse. 
Allen Parteien gegenüber müsse man sich streng neutral 
verhalten (Staatszeitung 232). 
So war in dieser Zeit alles aufs äußerste gespannt, und 
die Spannung nahm fortwährend zu, so daß schließlich die 
Entladung kommen mußte. Der schwankende Ernährungs- 
zustand und das Überhandnehmen der Grippe schuf in allen 
Kreisen des Volbs eine günstige Grundlage für den Um- 
sturz, da man von jeglicher Veränderung in irgendeiner 
Weise das Heil erwartete. 
II. Die Umsturzbewegung seit dem 8. November 
Am Ende der ersten Novemberwoche brach in Deutsch- 
land die große innere Revolution aus, die von München 
ausgehend, am 9. November zur Abdankung Kaiser Wil- 
belms führte und weiter zur Folge hatte, daß bis zum 
Ende des Monats in allen deutschen Bundesstaaten die 
republikanische Staatsform eingeführt wurde. 
Der äußere Anstoß ging von der Wasserkante aus. Die 
Marine war systematisch von Agitatoren bearbeitet worden, 
die von Nußland unterstützt mit Hilfe einiger unabhängiger 
Sozialdemokraten ihr Werk betrieben. Im Heere war die 
Agitation auf weniger ertragreichen Boden gefallen. Die 
lange Dauer des Kriegs mit allen bekannten Folgen war aber 
für die Unzufriedenheit die beste Grundlage. Die Schlagkraft 
und Moral unseres Heeres hatte empfindlich gelitten, so 
daß man nicht mehr imstande war, der kolossalen Kraft- 
anstrengung unserer Gegner Widerstand zu leisten. Die 
Front wankte, die Marine versagte den Gehorsam. Mit 
der Bitte um Waffenstillstand war auch die letzte Hoffnung 
geschwunden. Die Disziplinlosigkeit der Matrosen hatte 
Massenbestrafungen zur Folge gehabt. Am 3. November 
schließlich fand in Kiel die erste Versammlung statt, die 
die Freigabe der Verhafteten forderte. Der erste Straßen-= 
kampf an diesem Tage! Die Bewegung griff auf die ge- 
samte Marine über. Am 4. November war Hafen und 
Garnison von Kiel in den Händen der Aufständischen. Von 
Kiel sprang die Bewegung nach Lübeck und Hamburg über. 
In allen drei Städten streikte zu gleicher Zeit die gesamte 
Arbeiterschaft, und Arbeiter= und Soldatenräte wurden ge- 
bildet, die die politische Macht in die Hand nahmen. Auch 
Bremen schloß sich bald an. Von der Wasserkante verbrei- 
teten sich kleine Trupps von Matrosen über ganz Deutsch- 
land und fachten überall die Bewegung an, die dann von 
den Garnisonen weitergeleitet wurde und schließlich auf 
die gesamte Arbeiterschaft übergriff. 
Noch ehe Berlin von der Nevolution ergriffen wurde, 
zeigten sich in Sachsen Anzeichen des Aufruhrs. Am 8. No- 
vember nachmittags trafen in Leipzig Marinemannschaf- 
ten ein, die die Bahnbofswache entwaffneten, auf das 
Generalkommando zogen, es zur Ubergabe zwangen, die 
Kasernen einnahmen und einen Soldatenrat wählten, der 
gemeinsam mit dem von der Parteileitung der unab- 
hängigen Sozialdemokratie zusammengestellten Arbeiterrat 
die politische Macht übernahm. Die Szenen der Waffen- 
abgabe und deo Abzeichenraubes waren zum Teil sehr wider- 
wärtig. Verhandlungen der Abgcordneten Lipinsbi und Geyer 
und des Soldatenrats mit den Offizieren des General- 
kommandos umfaßten folgende Punkte: 
1. Völlige Ubergabe der Kommandantur und der militä- 
rischen Gewalt an den Arbeiter= und Soldatenrat. 
2. Völlige Ubergabe sämtlicher militärischer Depots, ent- 
haltend Lebensmittel, Munition und militärisches Ma- 
terial.
	        
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