Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

unserer bisherigen geographischen und staatsrechtlichen Stel- 
lung an. Wir dringen auf eine unbedingte Gleichberechtigung 
unserer kulturellen Forderungen neben den deutschen kul- 
turellen Forderungen. Wir wollen mit den Deutschen in 
Stadt und Land in Frieden leben, doch lehnen wir die Art 
des Bautzener Stadtrates ab, der von uns Wenden etwas 
fordern zu dürfen glaubt. Wir erklären ferner, daß die 
Wendenfrage keine innerpolitische, sondern eine internationale 
ist. Die letzte Entscheidung wird auf der Friedenskonferenz 
getroffen werden, auf welcher Vertreter unseres Volkes 
anwesend sein werden. 
Auf dem Wege über die Tschechei sandten sie Barth und 
Bryl auf die Friedenskonferenz, um dort die Bestätigung 
des proklamierten Staats entgegenzunehmen. Folgende 
offene Erklärung erließ der wendische Nationalausschuß 
(Deutscher Geschichtskalender, Die deutsche Revolution, 
Seite 450); 
Die schärfste Verwahrung und Kundgebung Lausitzer 
Verwaltungskörper veranlaßt uns, folgendes zu erwidern: 
Der Zusammenschluß der Ober= und Niederlausitzer Wen- 
den in der kommenden, sich selbstverwaltenden Wendei ge- 
schieht auf der von der deutschen Reichsregierung unter- 
schriftlich anerkannten Grundlage und ist eine so gut wie 
vollendete unabänderliche Tatsache. Die Wahrung der na- 
türlichen und wirtschaftlichen Rechte eines Volksstammes 
kann niemals die Vergewaltigung eines anderen Volkes be- 
deuten. Die preußischen Wenden haben seit Jahrhunderten 
unter einer brutalen Germanisation in Kirche und Schule 
zu leiden. Den sächsischen Wenden sind die ihnen von König 
und Regierung feierlich zugesagten selbstverständlichen Rechte 
auf Muttersprache und Volkstum nicht gehalten worden. 
Die Übermacht des Großgrundbesitzes beeinflußt einseitig 
die Landes= und Bezirksverwaltung. Die Fischereirechte, 
auch vielfach in reinen Bauerngemeinden, stehen dem Groß- 
grundbesitz zu. Die Lausitzer Bauern kämpfen seit Jahr- 
zehnten gegen das veraltete, die Bauerngemeinden schädi- 
gende Jagdrecht vergeblich an. Das den Rittergütern zu- 
stehende Vorkaufs= und Ankaufsrecht hat langsam, aber 
in immer wachsendem Umfange eine Bauernwirtschaft nach 
der anderen aufgekauft. Dadurch wurden freie Bauern in 
die Großstädte und in die Industiriezentren getrieben, wo 
sie und ihre Nachkommen als Lohnsklaven des Großkapitals 
fronden. Diese Zustände haben den Zusammenbruch des 
Deutschen Reiches mit verschuldet. Jetzt legt eine gütige 
und allmächtige Vorsehung die Gestaltung der Geschicke 
eines Bauernvolkes in seine eigene Hand. Wir nehmen nur 
die gewaltige Stunde der Weltenwende wahr. Die wen- 
dischen Kriegsgefangenen werden schon jetzt als Söhne eines 
freien und selbständigen Volkes angesehen und kehren, so- 
bald die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind, in ihre Hei- 
mat zurück. An den Kriegslasten wird das Wendenvolk 
nichts zu tragen haben. Es geht einer wirtschaftlichen Zu- 
kunft entgegen. Der Industrie werden bald Rohstoffe zur 
Verfügung stehen und ein aufnahmefähiger Weltmarkt offen 
stehen. Nur diejenigen, welche den furchtbaren Ernst der 
Zeit nicht verstehen, mögen glauben mit Wortgerassel und 
papiernen Kundgebungen die Weltenuhr zurückstellen zu 
können. 
Bautzen, den 25. Januar 1910. 
gez. Barth, Bryl.“ 
Für die Wahlen zur Nationalversammlung und zur säch- 
sischen Volkskammer schrieb der wendische Nationalausschuß 
Wahlenthaltung vor. 
Die sächsische Regierung sah sich nunmehr genötigt, gegen 
alles dies ernste Schritte zu unternehmen. In einer Er- 
klärung aim 31. Januar betonte sie folgendes (Staats- 
zeitung 25): 
453 
Der wendische Nationalausschuß hat sich veranlaßt ge- 
sehen, durch die Presse eine Erklärung über seine Stellung 
zur Wendenfrage bekanntzugeben. Die Erklärung soll eine 
Erwiderung auf schärfste Verwahrung und Kundgebung 
Lausitzer Verwaltungskörper“ sein, sie übergeht die Tatsache, 
daß die Bevölkerung der Lausitz durch die bisherige Tätig- 
keit des Nationalausschusses, mehr noch durch die wild um- 
laufenden Gerüchte vorher beunruhigt und in Aufregung 
versetzt worden ist. 
Was die Erklärung im einzelnen als wirtschaftliches Pro- 
gramm bringt, steht mit der Wendenfrage selbst zum Teil 
in sehr losem Zusammenhang. Die Beschwerden der bäuer- 
lichen Bevölkerung über den Großgrundbesitz, Jagd= und 
Fischereirecht und die Verhältnisse, die zur Abwanderung 
in die Industriegebiete führen, werden bekanntlich auch von 
der deutschsprechenden Bevölkerung des Landec vielfach er- 
hoben und haben mit der Nationalität nichts zu tun. Was 
bierin bei der kommenden Neuordnung zu geschehen hat, 
geht Deutsche und Wenden gemeinsam an und wird nach 
den Bedürfnissen der Allgemeinheit entschieden werden. 
Darüber hinaus erweckt aber die Erklärung unter aus- 
drücklichem Hinweis auf eine Sonderbehandlung der wen- 
dischen Volksgenossen durch unsere Feinde Hoffnungen, 
die, gerade weil die Ausführungen hierüber unklar sind, 
verwirren müssen. Die Wenden sind jederzeit gute Bürger 
unseres Staates gewesen und haben, von ihren deutsch- 
redenden Mitbürgern geschätzt und geachtet, mit uns ge- 
meinsam Gutes und Böses getragen. Sie baben in treuer 
Pflichterfüllung wie alle anderen Söhne des Landes für die 
Heimat gekämpft und geblutet. Sie werden nicht vergessen, 
was sie dem langen friedlichen Zusammenleben verdanken, 
und können sich versichert halten, daß ihre Sorgen volles 
Verständnis finden. Daß heute, in der Zeit allgemeiner Er- 
regung und unter dem schweren Druck der Not die Wünsche 
des einzelnen und ganzer Gruppen oft sonderbare Nichtungen 
einschlagen, ist durchaus begreiflich und eine Erscheinung, 
die sich nicht nur in der Lausitz zeigt. Es muß aber gegen- 
über der Form, in der Wünsche der Wenden in der Er- 
klärung des Nationalausschusses vorgebracht werden, be- 
tont werden, daß die ganze Frage eine innere An- 
gelegenheit des Reiches und des sächsischen Staates 
ist und bleiben wird. Es darf nicht übersehen wer- 
den, daß mit den Wenden zusammen und in be- 
deutender Überzahl eine rein deutsche Bevölkerung wohnt, 
der das gleiche Selbstbestimmungerecht nicht streitig gemacht 
werden darf. Eine räumlich erkennbare feste Trennungslinie 
gibt es nicht. Die gegenseitige Durchdringung beider Teile 
der Bevölkerung hat bisher dem friedlichen Zusammen-- 
wohnen keinen Abbruch getan und wird dies auch bünftig 
nicht tun, wenn die Erregung der Ubergangszeit sich legt und 
die Wenden sich davon überzeugen, daß ihre Wünsche bei 
der Regierung verständnisvolle Aufnahme finden. Wenn 
auch in Abrede gestellt werden muß, daß die Wenden bieher 
in Sachsen „unterdrückt“ worden sind, so ist sich die jetzige 
Regierung doch bewußt, daß im Sinne der wendischen Be- 
strebungen manches zu ändern und zu bessern bleibt. Sie 
ist weit davon entfernt, die Angelegenheit leichthin abzu- 
tun, und schenkt ihr vollste Aufmerksamkeit. Sie hofft 
bei den weiteren Besprechungen den Weg zu finden, auf 
welchem dem wendischen Volkstum die berechtigte Wahrung 
seiner Eigenart gesichert wird, und hat zu dem tüchtigen 
bleinen Stamm, der so mannhaft für seine Muttersprache 
und seine Kulturgüter eintritt, das Vertrauen, daß er sich 
nicht in politische Abenteuer hineinreißen läßt, die für ihn 
verhängnisvoll werden würden. — 
Anfang Februar wurde die Wendenfrage auf der Pariser 
Konferenz offiziell behandelt. Die Allüerten standen den 
Ansprüchen sympathisch gegenüber, und es wurden Zusiche- 
rungen in Hinsicht auf Selbständigkeit der Wenden, Aus-
	        
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