unserer bisherigen geographischen und staatsrechtlichen Stel-
lung an. Wir dringen auf eine unbedingte Gleichberechtigung
unserer kulturellen Forderungen neben den deutschen kul-
turellen Forderungen. Wir wollen mit den Deutschen in
Stadt und Land in Frieden leben, doch lehnen wir die Art
des Bautzener Stadtrates ab, der von uns Wenden etwas
fordern zu dürfen glaubt. Wir erklären ferner, daß die
Wendenfrage keine innerpolitische, sondern eine internationale
ist. Die letzte Entscheidung wird auf der Friedenskonferenz
getroffen werden, auf welcher Vertreter unseres Volkes
anwesend sein werden.
Auf dem Wege über die Tschechei sandten sie Barth und
Bryl auf die Friedenskonferenz, um dort die Bestätigung
des proklamierten Staats entgegenzunehmen. Folgende
offene Erklärung erließ der wendische Nationalausschuß
(Deutscher Geschichtskalender, Die deutsche Revolution,
Seite 450);
Die schärfste Verwahrung und Kundgebung Lausitzer
Verwaltungskörper veranlaßt uns, folgendes zu erwidern:
Der Zusammenschluß der Ober= und Niederlausitzer Wen-
den in der kommenden, sich selbstverwaltenden Wendei ge-
schieht auf der von der deutschen Reichsregierung unter-
schriftlich anerkannten Grundlage und ist eine so gut wie
vollendete unabänderliche Tatsache. Die Wahrung der na-
türlichen und wirtschaftlichen Rechte eines Volksstammes
kann niemals die Vergewaltigung eines anderen Volkes be-
deuten. Die preußischen Wenden haben seit Jahrhunderten
unter einer brutalen Germanisation in Kirche und Schule
zu leiden. Den sächsischen Wenden sind die ihnen von König
und Regierung feierlich zugesagten selbstverständlichen Rechte
auf Muttersprache und Volkstum nicht gehalten worden.
Die Übermacht des Großgrundbesitzes beeinflußt einseitig
die Landes= und Bezirksverwaltung. Die Fischereirechte,
auch vielfach in reinen Bauerngemeinden, stehen dem Groß-
grundbesitz zu. Die Lausitzer Bauern kämpfen seit Jahr-
zehnten gegen das veraltete, die Bauerngemeinden schädi-
gende Jagdrecht vergeblich an. Das den Rittergütern zu-
stehende Vorkaufs= und Ankaufsrecht hat langsam, aber
in immer wachsendem Umfange eine Bauernwirtschaft nach
der anderen aufgekauft. Dadurch wurden freie Bauern in
die Großstädte und in die Industiriezentren getrieben, wo
sie und ihre Nachkommen als Lohnsklaven des Großkapitals
fronden. Diese Zustände haben den Zusammenbruch des
Deutschen Reiches mit verschuldet. Jetzt legt eine gütige
und allmächtige Vorsehung die Gestaltung der Geschicke
eines Bauernvolkes in seine eigene Hand. Wir nehmen nur
die gewaltige Stunde der Weltenwende wahr. Die wen-
dischen Kriegsgefangenen werden schon jetzt als Söhne eines
freien und selbständigen Volkes angesehen und kehren, so-
bald die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind, in ihre Hei-
mat zurück. An den Kriegslasten wird das Wendenvolk
nichts zu tragen haben. Es geht einer wirtschaftlichen Zu-
kunft entgegen. Der Industrie werden bald Rohstoffe zur
Verfügung stehen und ein aufnahmefähiger Weltmarkt offen
stehen. Nur diejenigen, welche den furchtbaren Ernst der
Zeit nicht verstehen, mögen glauben mit Wortgerassel und
papiernen Kundgebungen die Weltenuhr zurückstellen zu
können.
Bautzen, den 25. Januar 1910.
gez. Barth, Bryl.“
Für die Wahlen zur Nationalversammlung und zur säch-
sischen Volkskammer schrieb der wendische Nationalausschuß
Wahlenthaltung vor.
Die sächsische Regierung sah sich nunmehr genötigt, gegen
alles dies ernste Schritte zu unternehmen. In einer Er-
klärung aim 31. Januar betonte sie folgendes (Staats-
zeitung 25):
453
Der wendische Nationalausschuß hat sich veranlaßt ge-
sehen, durch die Presse eine Erklärung über seine Stellung
zur Wendenfrage bekanntzugeben. Die Erklärung soll eine
Erwiderung auf schärfste Verwahrung und Kundgebung
Lausitzer Verwaltungskörper“ sein, sie übergeht die Tatsache,
daß die Bevölkerung der Lausitz durch die bisherige Tätig-
keit des Nationalausschusses, mehr noch durch die wild um-
laufenden Gerüchte vorher beunruhigt und in Aufregung
versetzt worden ist.
Was die Erklärung im einzelnen als wirtschaftliches Pro-
gramm bringt, steht mit der Wendenfrage selbst zum Teil
in sehr losem Zusammenhang. Die Beschwerden der bäuer-
lichen Bevölkerung über den Großgrundbesitz, Jagd= und
Fischereirecht und die Verhältnisse, die zur Abwanderung
in die Industriegebiete führen, werden bekanntlich auch von
der deutschsprechenden Bevölkerung des Landec vielfach er-
hoben und haben mit der Nationalität nichts zu tun. Was
bierin bei der kommenden Neuordnung zu geschehen hat,
geht Deutsche und Wenden gemeinsam an und wird nach
den Bedürfnissen der Allgemeinheit entschieden werden.
Darüber hinaus erweckt aber die Erklärung unter aus-
drücklichem Hinweis auf eine Sonderbehandlung der wen-
dischen Volksgenossen durch unsere Feinde Hoffnungen,
die, gerade weil die Ausführungen hierüber unklar sind,
verwirren müssen. Die Wenden sind jederzeit gute Bürger
unseres Staates gewesen und haben, von ihren deutsch-
redenden Mitbürgern geschätzt und geachtet, mit uns ge-
meinsam Gutes und Böses getragen. Sie baben in treuer
Pflichterfüllung wie alle anderen Söhne des Landes für die
Heimat gekämpft und geblutet. Sie werden nicht vergessen,
was sie dem langen friedlichen Zusammenleben verdanken,
und können sich versichert halten, daß ihre Sorgen volles
Verständnis finden. Daß heute, in der Zeit allgemeiner Er-
regung und unter dem schweren Druck der Not die Wünsche
des einzelnen und ganzer Gruppen oft sonderbare Nichtungen
einschlagen, ist durchaus begreiflich und eine Erscheinung,
die sich nicht nur in der Lausitz zeigt. Es muß aber gegen-
über der Form, in der Wünsche der Wenden in der Er-
klärung des Nationalausschusses vorgebracht werden, be-
tont werden, daß die ganze Frage eine innere An-
gelegenheit des Reiches und des sächsischen Staates
ist und bleiben wird. Es darf nicht übersehen wer-
den, daß mit den Wenden zusammen und in be-
deutender Überzahl eine rein deutsche Bevölkerung wohnt,
der das gleiche Selbstbestimmungerecht nicht streitig gemacht
werden darf. Eine räumlich erkennbare feste Trennungslinie
gibt es nicht. Die gegenseitige Durchdringung beider Teile
der Bevölkerung hat bisher dem friedlichen Zusammen--
wohnen keinen Abbruch getan und wird dies auch bünftig
nicht tun, wenn die Erregung der Ubergangszeit sich legt und
die Wenden sich davon überzeugen, daß ihre Wünsche bei
der Regierung verständnisvolle Aufnahme finden. Wenn
auch in Abrede gestellt werden muß, daß die Wenden bieher
in Sachsen „unterdrückt“ worden sind, so ist sich die jetzige
Regierung doch bewußt, daß im Sinne der wendischen Be-
strebungen manches zu ändern und zu bessern bleibt. Sie
ist weit davon entfernt, die Angelegenheit leichthin abzu-
tun, und schenkt ihr vollste Aufmerksamkeit. Sie hofft
bei den weiteren Besprechungen den Weg zu finden, auf
welchem dem wendischen Volkstum die berechtigte Wahrung
seiner Eigenart gesichert wird, und hat zu dem tüchtigen
bleinen Stamm, der so mannhaft für seine Muttersprache
und seine Kulturgüter eintritt, das Vertrauen, daß er sich
nicht in politische Abenteuer hineinreißen läßt, die für ihn
verhängnisvoll werden würden. —
Anfang Februar wurde die Wendenfrage auf der Pariser
Konferenz offiziell behandelt. Die Allüerten standen den
Ansprüchen sympathisch gegenüber, und es wurden Zusiche-
rungen in Hinsicht auf Selbständigkeit der Wenden, Aus-