Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

des Wirtschaftsorganismus, Rücksicht auf die allererste Not- 
wendigkeit der Wiederbelebung des Wirtschaftslebens, der 
Schaffung von Lebensunterhalt und Arbeitsmöglichkeit. 
Die Einigung unterblieb. Der Hauptgegensatz zwischen 
beiden Parteien bestand im verschiedenen Tempo der Ein- 
führung verschiedener Punkte des sozialistischen Pro= 
gramms. 
Eine wichtige Frage bildete die Sozialisierung. Mit 
diesem Schlagwort wurde erheblicher Unfug getrieben. Das 
Proletariat im großen verstand kaum, worum es sich dabei 
handelte, und das Bürgertum sah ein Gespenst der voll- 
ständigen Zernichtung des Wirtschaftslebens in allen So- 
zialisierungsplänen. Von Reichs wegen war die Frage der 
Sozialisierung schon in Ausschußsitzungen behandelt wor- 
den. Man war sich einig, daß eine vollständige Umstellung 
in Gemeinwirtschaft der Vernichtung allen Wirtschafts- 
lebens gleichkäme. Man sprach nur noch von der Soziali- 
sierung der dazu reifen Betriebe, wie Bergbau, Elektrizi- 
tätswesen usw. In Sachsen arbeitete man schon an einem 
Gesetzentwurf über die Verstaatlichung des Bergbaus 
(Staatszeitung 30), man betonte aber immer wieder, 
daß man den Reichsgesetzen nicht zuvorkommen dürfe, um 
nicht Fehler zu machen. Großes Aufsehen machte bei ung 
zulande die Tätigkeit Dr. Neuraths, der mit Kranold 
und Schumann zusammen einen Sozialisierungsplan für 
Sachsen ausgearbeitet hatte. Die Denkschrift war dem Ge- 
samtministerium zugegangen. Da auch in der Presse dieser 
Man vielfach in dem Sinne besprochen wurde, als wolle die 
sächsische Regierung eine Sondersozialisierung vornehmen, 
sprach sich die Regierung dahingehend aus, daß sie den 
Mlan nicht zu dem ihrigen mache, und daß sie im Einver- 
nehmen mit der Reichsregierung das Problem der Soziali- 
sierung behandeln wolle (Staatszeitung 41). Auch der 
Vollzugsrat des Landesarbeiter= und Soldatenrats nahm eine 
ähnliche Stellung ein und sah in dem Neurathschen Plane 
ein Werk der Theorie (Staatszeitung 43). Daß aber die 
Regierung Sozialisierungspläne hatte, bewies die program- 
matische Erblärung anläßlich der Annahme des Verfassungs-= 
entwurfs (siehe Seite 452). 
Da die Unabhängigen auf dem Wege der Verhandlung 
nicht recht vorwärts kamen, versuchten sie in Putschtaktik 
der Kommunisten mehr zu erreichen. Besonders tat sich 
Leipzig hervor, dessen Arbeiterschaft bei jeder Gelegen- 
heit in einen Sympathiestreik eintrat, sei es anläßlich des 
Todes von Liebknecht und Eisner, sei es um den Bremer 
Revolutionären eine Solidaritätserklärung zukommen zu 
lassen, sei es in wahnsinniger Weise die sofortige Soziali- 
sierung des mitteldeutschen Bergbaus zu erzwingen, sei es 
irgendwelche andere politischen Ziele durchzuführen. An 
Stelle des berechtigten wirtschaftlichen Streiks war der 
politische getreten. Gewalttätigkeiten waren dabei an der 
Tagesordnung. Ahnliche Verhältnisse herrschten in Pirna, 
der Wirkungsstadt Rühles, auch in Plauen i. V. kam es 
in den Tagen der Einberufung der Volkskammer zu einem 
Aufruhr. Ein kleiner Zwischenfall ereignete sich am 2. Fe- 
bruar in Oschatz, wo die Wahl durch den Soldatenrat ge- 
stört wurde. Dresden blieb von größern Unruhen befreit. 
Ein Aufruf des Gewerkschaftskartells und der Sozialdemo- 
kratischen Partei warnte vor Unbesonnenheiten (Staats- 
zeitung 47): 
Arbeiter und Arbeiterinnen! Dem deutschen Volke 
drohen schwere Gefahren. Die Hungersnot steht vor der 
Tür, wenn wir nicht so rasch wie möglich Waren schaffen, 
die wir dem Auslande für Nahrungsmittel in Jahlung geben 
können. In diesen schweren Stunden versuchen es die kurz- 
sichtigen Parteiführer der Unabhängigen, die Arbeiter aus 
den Betrieben zu locken. Durch den Aufruf zu einer Kund- 
gebung, die morgen stattfinden soll, wollen sie den „De- 
monstrationsstreik“ entfachen. Weil in München ein halb- 
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verrückter Aristobrat den Ministerpräsident Kurt Eisner er- 
schost, entstanden in mehreren deutschen Städten Erschütte- 
rungen, die die Unabhängigen auch auf Sachsen übertragen 
möchten, um daran ihr Parteisüppchen zu kochen. Jeder 
Streik richtet sich gegenwärtig gegen das deutsche Prole- 
tariat und gegen die von ihm mit übergroßer Mehrheit ge- 
wählten Vertrauensleute. Was haben die Regierungen 
Deutschlands mit der Wahnsinnstat eines reaktionären Fa- 
natikers zu tun? Wo aber bleibt die Entrüstung der Un- 
abhängigen über die von den unabhängig-spartakidischen Fa- 
natikern verübten Mordanschläge auf unsere Genossen Auer, 
Timm und Noßhaupter? 
Arbeiter und Arbeiterinnen! Wendet Euch ab von dieser 
jetzt ebenso sinnlosen wie gefährlichen Streik= und Putsch- 
politik. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion steht in 
der Sozialisierungsfrage auf dem Standpunkt des Theore- 
tikers der Unabhängigen Karl Kautsky und wird darauf 
dringen, daß alle heute möglichen Sozialisserungsmaß-= 
nahmen durchgeführt werden. Wem das Wohl unserer 
Frauen und Kinder am Herzen liegt, der bleibe bei seiner 
Arbeit! Der Arbeiter= und Soldatenrat wird, wenn es zum 
Schutze der Bevölkerung notwendig werden sollte, gegen 
Gewalt mit Gewalt vorgehen. Er besitzt die Machtmittel, 
jeden Terrorismus zu brechen. 
Helft uns, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden! Bleibt 
allen Ansammlungen fern, zu denen Ihr nicht von den Ge- 
werkschaften oder der sozialdemokratischen Partei gerufen 
werdet! 
Den Anlaß zu den Unruhen gab für gewöhnlich die Parole 
des betreffenden örtlichen Arbeiter= und Soldatenrats. Der 
Leipziger Rat zeichnete sich durch besonders radikale Tätig= 
keit aus. Allmählich gestaltete sich seine Haltung zu einer 
vollständig verfassungswidrigen aus, so daß man scherzweise 
schon von einer Republik Leipzig sprach. 
Um die Unruhen einzudämmen, benötigte die Regierung 
einer Sicherheitstruppe. Schneller als erwartet war 
das alte Heer in Trümmer gegangen. Die örtlichen Räte- 
organisationen umgaben sich mit einer oft aus zweifelhaften 
Elementen zusammengesetzten Sicherheitswehr, die vielfach 
die Matrosenuniform trug. Durch ihr oft aufreizendes 
Benehmen erregte sie den Haß breiter Bevölkerungsschichten, 
so daß der „blaue Junge“ seine ganze Popularität verlor. 
Eine neue sichere und zuverlässige Truppe wurde infolge 
der äußeren Gefahr geschaffen. Die Ubergriffe der Polen 
und russischen Bolschewisten, die drohenden Angriffe der 
Tschechen machten die Einrichtung des Grenzschutzes 
nötig. Freiwillige meldeten sich, sehr viel Offiziere unter 
ihnen, so daß der militärische Wert dieser Truppe ein sehr 
hoher war. Jwar wollte man an den Orten, wo die Unab- 
hängigen das Heft in der Hand hatten, die Werbung für 
den Grenzschutz hintertreiben, ohne verhindern zu können, 
daß die Freiwilligen in andere Orte gingen. Insbesondere 
traten die Studentenschaften zu einem großen Teil zur 
neuen Truppe über (Staatszeitung *27). Die sachsische 
Regierung förderte die Bestrebungen des Grenzschutzes durch 
einen besonderen Aufruf (Staatszeitung 38): 
Noch haben wir keinen Frieden. Noch stehen Feinde auf 
allen Seiten Deutschlands unter den Waffen. Die Polen 
sind im Osten eingebrochen und haben für unsere Ernährung 
unersetzliche Gebiete besetzt. Bis auf 160 Kilometer sind 
sie an Berlin, bis auf 135 Kilometer an Bautzen heran- 
gekommen. Die freie sächsische Republik trägt ganz allein 
die Verantwortung für den Schutz ihrer Grenzen. Aber wir 
besitzen keine ausreichende Macht, um unsere Entschlossen- 
heit, daß wir beinen Fußbreit unseres Vaterlandes hergeben 
wollen, beweisen können. Noch sind wir jedem Putschversuch 
Fanatisierter chauvinistischer feindlicher Truppenteile wehrlos 
auggesetzt! Gegen solche Gefahren brauchen wir die Hilfe 
des ganzen sächsischen Volkes! Darum müssen wir uns
	        
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