114 24. Juli
Der Herr Minister vertrat hiebei die wahrscheinlich als
Resultat des Ministerrates zu betrachtende Ansicht, der öster-
reichisch-ungarisch-serbische Streit sei keine auf diese Staaten
beschränkte Angelegenheit, sondern eine europäi-
sche, da der im Jahre 1909 durch eine serbische Deklaration
erfolgte Ausgleich unter den Auspizien ganz Europas vollzogen
worden sei.’)
Der Herr Minister hob hervor, dass ihn besonders der
Umstand unangenehm berührt habe, dass Oesterreich-Ungarn
die Prüfung eines Dossiers angeboten habe, während bereits
ein Ultimatum ergangen sei. Russland würde eine internationale
Prüfung des von uns zur Verfügung gestellten Dossiers ver-
langen. Mein deutscher Kollege machte Herrn Sasonow sofort
darauf aufmerksam, dass Oesterreich-Ungarn eine Einmischung
in seine Differenz mit Serbien nicht akzeptieren werde und
dass auch Deutschland seinerseits eine Zumutung nicht an-
nehmen können, welche der Würde des Bundesgenossen als
Grossmacht zuwiderlaufe.
Im weiteren Verlaufe des Gespräches erklärte der Herr
Minister, dass dasjenige, was Russland nicht gleichgültig hin-
nehmen könne, die eventuelle Absicht Oesterreichs-Ungarns
wäre «de devorer la Serbie ».°) Graf Pourtal&s erwiderte,
dass er eine solche Intention bei Oesterreich-Ungarn nicht
annehme, da dies dem eigensten Interesse der Monarchie zu-
widerlaufen würde. Otsterreich-Ungarn sei wohl nur daran
gelegen «d’infliger ä la Serbie le chätiment justement merit&».*)
Herr Sasonow: habe seine Zweifel daran ausgedrückt, ob
Oesterreich-Ungarn, selbst wenn hierüber Erklä-
rungenvorliegenwürden, sich hieran genügen lassen
würde.
Die Unterredung schloss mit einem Appell Herrn Saso-
nows, Deutschland möge mit Russland an der Erhaltung des
Friedens zusammenarbeiten. Der deutsche Botschafter ver-
sicherte dem russischen Minister, dass Deutschland gewiss
nicht den Wunsch habe, einen Krieg zu entfesseln, dass es aber
selbstverständlich die Interessen seines Bundesgenossen voll
vertrete.
Rb. Nr. 16. ?) Auf diese Begründung des europäischen
Charakters der Angelegenheit kam Sasonow später wiederholt zu-
rück.
?®) «Serbien zu verschlingen>.
*) «Serbien die gerechterweise verdiente Strafe zu erteilen>.