258 30. Juli
ersticken. In dem Ministerrate, der gestern früh stattfand,
machten sich noch Meinungsverschiedenheiten geltend; die
Bekanntgabe der Mobilisierung wurde verschoben, aber seit-
dem ist ein Umschwung eingetreten, die Kriegspartei
hat die Oberhand gewonnen und heute früh
um 4 Uhr wurde die Mobilmachung bekannt-
segeben.
Die Armee, die sich stark fühlt, ist voller Begeisterung
und gründet grosse Hoffnungen auf die ausserordentlichen Fort-
schritte, die seit dem japanischen Kriege gemacht worden
sind. Die Marine ist von der Verwirklichung ihres Erneuerungs-
und Reorganisationsplanes noch so entfernt, dass mit ihr wirk-
lich kaum zu rechneniist. Darineben liegt der Grund,
warum die Zusicherung des englischen Bei-
standes eine so grosse Bedeutung gewann.
Wie ich die Ehre hatte, Ihnen heute zu telegraphieren,
scheint jegliche Moffnung auf eine friedliche Lösung dahin zu
sein. Das ist die Ansicht der diplomatischen Kreise.
Für mein Telegramm habe ich den Weg via Stockholm
über das Nordisk Kabel benutzt, da er sicherer ist als der
andere. Diesen Bericht vertraue ich einem Privatkurier an, der
ihn in Deutschland zur Post geben wird.
Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner
erössten Erzebenheit. B. de !’Escaille. °)
Neuausg. d. Wb. Abschn. 4. °) An die Veröffentlichung dieses
Berichtes knüpfte die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» folgenden
Kommentar:
«Unsere Feinde erklären heute, verleumderisch und unter ge-
flissentlicher Verdrehung der wahren Tatsachen, aller Welt, die Mächte
der Tripleentente hätten bis zum letzten Augenblicke nur die Erhal-
tung des Weltfriedens im Auge gehabt, seien aber durch Deutsch-
lands schroffes, jede Verständigung unmöglich machendes Verhalten
zum Kriege gezwungen worden; Deutschland habe eben in seiner
wilden Eroberungsgier unter allen Umständen den Krieg gewollt. Dem-
gegenüber ist das vorliegende Dokument als Beweis dafür wertvoll,
dass man in diplomatischen Kreisen Petersburgs noch am 30. Juli, also
zwei Tage vor der deutschen Mobilmachung, die Ueberzeugung hatte,
Deutschland habe sich sowohl in Wien wie in Petersburg die grösste
Mühe gegeben, den österreichisch-serbischen Konflikt zu lokalisieren
und den Ausbruch eines allgemeinen Weltbrandes zu verhindern. Es
ist ferner wertvoll als Beweis dafür, dass dieselben Kreise schon da-
mals überzeugt waren, England habe durch die Zusicherung, es werde
in einem etwaigen Kriege nicht neutral bleiben, sondern Frankreich
gegen Deutschland beistehen, der russischen Kriegspartei den Rücken
gestärkt und damit wesentlich zur Provozierung des Krieges beige-
tragen. Und schliesslich ist dieses Dokument auch noch deshalb für
uns von Interesse, weil sein diplomatischer Verfasser seiner Regie-
rung berichten zu sollen glaubte, er halte die Versicherung Russlands,
nur in einzelnen Gouvernements würden die Truppen zu den
Fahnen gerufen, eine allgemeine Mobilmachung finde aber nicht statt,
für Schwindel. »