326 1. August
welche Haltung Italien angesichts der pro-
vozierenden Akte Deutschlands und ihrer
Folgen annehmen würde,
Der Minister des Aeusseren antwortete mir, dass er
gestern abend den Besuch des deutschen Botschafters erhalten
habe. Herr von Flotow habe ihm gesagt, dass Deutschland die
russische Regierung aufgefordert habe, ihre Mobilmachung
einzustellen, und die französische Regierung gefragt habe,
welche Absichten sie habe; Deutschland habe Frankreich eine
Frist von 18 Stunden und Russland eine Frist von 12 Stunden
für die Antwort bewilligt.
ferr von Flotow fragte im Anschluss an diese Mittei-
lung, welche Absichten (die italienische Regierung hege.
Marquis di San Giuliano hat geantwortet, dass, da der
von Oesterreich unternommene Krieg, haupt-
sächlich wegen der Folgen, die er nach den Worten des deut-
schen Botschafters haben könne, einen aggressiven
Charakter habe, der nicht mit dem rein defensi-
ven Charakter des Dreibundes imEinklang stehe,
Italien nicht an dem Kriege teilnehmen
könne.'!)
Gib.Nr. 124. ') Mit dieser Aeusserung Giulianos ist ein grosser
Missbrauch getrieben worden. Die Dreiverbandsdiplomatie benutzte
sie, um vor der Welt darzutun, dass Deutschland einen Aggressivkrieg
führe. So liess die französische Regierung am 3. August der engli-
schen Regierung die Aeusserung Giulianos mitteilen. «Indem er diese
Mitteilung machte», heisst es im Bib. Nr. 152, < betonte Herr Cambon
auftragsgemäss die italienische Erklärung, dass der gegenwärtige
Krieg kein defensiver Krieg, sondern ein Angriffskrieg sei und dass
aus diesem Grund der casus foederis nach dem Wortlaut des Drei-
bundsvertrages nicht eintrete»>. Das ist eine offenbare Verdrehung der
italienischen Aeusserungen. Aus dem Wortlaut des obenstehenden
Dokumentes geht mit einwandsfreier Klarheit hervor, dass Giuliano
nicht daran gedacht hat, den deutsch-russischen oder französisch-
deutschen oder gar den deutsch-englischen Krieg, ebensowenig wie den
österreichisch-russischen Krieg, — alle diese Kriege waren überhaupt
noch nicht ausgebrochen — als deutsche oder österreichische Aggres-
sivkriege zu betrachten. Er spricht nur von dem österreichisch-serbi-
schen Krieg, der natürlich, und das ist nie von Oesterreich-Ungarn
bestritten worden, seiner Form nach ein von Oesterreich-Ungarn ge-
führter Angriffskrieg ist. Die anderen möglichen Kriege sieht Giuliano
als Folgen dieses Krieges an. Seine Anschauung deckt sich also auch
insofern nicht mit der französischen, als Frankreich ja den weiteren Krieg
als gegen Oesterreichs Wunsch von Deutschland vom Zaune gebrochen
erklärt, während Giuliano ihn als die Folge des österreichischen
Krieges gegen Serbien auffasst. Es ist eine vollständige Verschiebung
der Tatsachen, wenn die französische Diplomatie Giulianos Worte als
auf den Weltkrieg gemünzt interpretiert, während sie klar und deut-
lich nur für den österreichisch-serbischen Krieg gelten.