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Bismarck aber nach dem Wortlaut des Erlasses nicht aus den Händen, viel—
leicht weil verfassungsmäßig Schwierigkeiten bestanden, sich in der Eigenschaft
als Bundeskanzler einen vollen Stellvertreter zu bestellen; thatsächlich trat als
solcher immer mehr der Präsident des Bundeskanzler-Amts Delbrück in den
Vordergrund, welcher überdies ermächtigt wurde, an den Beratungen des Staats-
ministeriums teilzunehmen. Die Versuche, die Ernennung Delbrücks zum
preußischen Staatsminister als einen Akt ohne politische Bedeutung darzustellen.)
trafen das Richtige nicht.
Das vorübergehende Zurücktreten Bismarcks von den Geschäften“) äußerte
der Gesundheit wegen nicht die ausdrückliche und feierliche Entbindung von den Geschäften,
sondern nur ein gewöhnlicher Urlaub nötig gewesen wäre. Dies beruht aber auf einer
Verkennung der Verhältnisse. Um dem Grafen Bismarck volle Ruhe zu gewähren, war
es nötig, ihm jede Sorge und Verantwortung für die nächsten Entschließungen der Regie-
rung abzunehmen. So lange dies nicht geschah, hielt er selbst und hielten alle seine
Kollegen sich verpflichtet, bei allen wichtigen Schritten seine Meinung einzuholen. Das
hatte z. B. im vorigen Jahre zur Folge, daß über die Frage der Deckung des Defizits
nicht bloß die lebhafteste Korrespondenz nach Varzin, sondern mehrere besondere Sendungen
dahin stattgefunden haben. Es liegt auf der Hand, daß jetzt, wo es gilt, bis zum Oktober
die erheblichsten Entscheidungen nicht bloß in den Finanzangelegenheiten, sondern auch auf
anderem Gebiet vorzubereiten, von einer Erholung für den Grasen Bismarck nicht die
Rede sein könnte, wenn er bei allen diesen Fragen zur Mitentscheidung herangezogen
werden sollte. Dies ist der wirkliche und bestimmte Grund für die ausdrückliche Ent-
bindung des Grafen Bismarck von den Geschäften als Ministerpräsident. Derselbe mußte
ausgesprochen werden.
*) Nach dieser Version wurde Delbrück „Titularminister“, weil äußere Unzuträglich-
keiten beseitigt werden sollten. Der Umstand, daß die Herren v. Roon und Camphausen
gleichfalls Mitglieder des Bundesrats waren, die sich füglich nicht unter den Vorsitz eines
preußischen Geheimen Rats stellen konnten, sollte Delbrücks Ernennung zum Minister veran-
laßt haben.
*“) Dem Aussehen, welches die Beurlaubung des Grafen Bismarck gemacht hatte, trat
man von anscheinend offiziöser Seite beschwichtigend entgegen. So wurde der „Magde-
burger Zeitung“ von Berlin unterm 10. Juli geschrieben: Die Fernhaltung Bismarcks
von den Präsidialgeschäften des preußischen Ministeriums ist vielfach und, wie wir hören,
irrtümlich so aufgefaßt worden, als ob während des Urlaubs des Ministerpräsidenten das
Ministerium durchaus selbständig und ganz ohne Bismarcks Absichten zu berücksichtigen,
seine Entscheidungen treffen werde. Das ist falsch. Treten irgend wichtige Fragen auf,
die ihre Abwicklung rasch erfahren müssen, so werden jederzeit Rückfragen nach Varzin
erfolgen, um die Harmonie innerhalb des Ministeriums bestehen zu lassen. Es wird dies
für unerläßlich angesehen, da Bismarcks Wiedereintritt in das preußische Ministerium,
wenn auch noch so spät, jedenfalls erfolgen wird. Die Nichtbeobachtung dieses Verfahrens
würde zu Mißverhältnissen führen, die schließlich nur durch eine gänzliche Modifikation des
Kabinets beseitigt werden könnten. Es findet ferner eine fortlaufende Korrespondenz
zwischen Varzin und dem Kabinet des Königs statt. So erfolgen beispielsweise keinerlei
Neubesetzungen hoher Posten, ohne daß zuvor der Bundeskanzler um Vorschläge resp. um
Gutheißung der ihm namhaft gemachten Kandidaten angegangen worden wäre. Kurz,
Bismarck hat trotz seines Urlaubs von den Präsidialgeschäften des Staatsministeriums