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In der Bundesratssitzung vom 21. Juni brachten demnächst Sachsen,
Württemberg und Baden in dem Bundesrat den Antrag ein, der Bundesrat
wolle die Beratung der §§ 2 und 4 des Gütertarifentwurfs wieder aufnehmen
und unter vorläufiger Entbindung des Verfassungsausschusses von dem demselben
erteilten bezüglichen Auftrag den Gegenstand behufs der Detailberatung über
ein einheitliches Tarifsystem mit den dazu gehörigen Normaleinheitssätzen an
einen außerordentlichen Ausschuß zurückverweisen. Dieser Antrag wurde von
dem Staatsminister v. Mittnacht damit begründet, daß die Geschäftslage die
Einbringung des Entwurfs in den Reichstag doch nicht mehr zulasse, und der
Gegenstand daher seine Dringlichkeit verloren habe. Man könne deshalb die
Versuche zu einer materiellen Verständigung wieder aufnehmen. Die vor-
geschlagene Detailberatung seitens des Ausschusses sei jedenfalls nützlich. Ein
Widerspruch hiergegen wurde nicht erhoben, die Beratung des Antrags jedoch
auf Antrag Oldenburgs bis zur nächsten Sitzung vertagt. Es verlautete übrigens,
daß die erneute Anregung der Angelegenheit von dem Verfassungsausschuß selbst
ausgegangen war, nachdem er eine Sitzung abgehalten hatte, und zwar zu dem
Zwecke, einen Referenten zu ernennen.
die ihm zugewiesene Frage der Verfassungsmäßigkeit der Eisenbahnvorlage zu bestellen. Der
Ausschuß besteht aus sieben Mitgliedern, und es ist als sicher anzunehmen, daß von diesen sieben
fünf in den §§ 2 und 4 der Vorlage eine Verfassungsänderung erblicken. Danach wird
dann der Antrag des Ausschusses sich voraussichtlich gestalten. Im Plenum des Bundes-
rats aber, wo bekanntlich nicht nach Köpfen, sondern nach der jedem Staate zustehenden
Stimmenzahl die Mehrheit berechnet wird, ist es wiederum ebensowenig zweifelhaft, daß
die Ansicht, es enthalte das Gesetz keine Verfassungsänderung, die Mehrheit erhalten wird.
Der Bundesrat hat aber kein anderes Mittel, um die Frage der Verfassungsmäßigkeit fest-
zustellen, als einfache Mehrheit, und diese gibt demnächst das entscheidende Wort. Es ist
dies der analoge Fall wie bei der von dem Reichstag geübten Kompetenzkompetenz“
Windthorstscher Zusammenstellung, das heißt der Befugnis des Reichstags, über die Grenzen
der Befugnisse des Reiches heziehungsweise seiner eigenen selbst zu entscheiden. Nichts-
destoweniger ist durch die Heranziehung der Verfassungsfrage die Angelegenheit sehr weit-
aussehend geworden. Gerüchte von einem Kompromiß zwischen dem Reichskanzler und den
Mittelstaaten auf Grund des sächsisch-württembergischen Vorschlages der Uebertragung
der Aenderungen im Normaleinheitstarif an die Landesregierungen tauchen auf; allein da
damit wieder die einheitliche Gestaltung des Eisenbahnwesens in Frage gestellt wird, so
würde damit gerade die Richtung abgeschwächt, in welcher die Vorteile des Entwurfs ge-
funden werden könnten. Gegenüber diesen Verhältnissen beginnt in Bundesratskreisen bereits
die Meinung zu zirkuliren, als wäre für diesmal überhaupt schon die Sache zur Ruhe
gestellt und solle in dilatorischer Behandlung innerhalb der Pforten des Bundesrats zwischen
Plenum und Ausschuß zur Sommerruhe kommen. Was die Stellung Bayerns zu der
Angelegenheit betrifft, über welche einige Unklarheit herrscht, so enthält es sich, wie mit-
geteilt wird, gemäß seines Reservatrechts in Eisenbahnsachen der Beteiligung an der Ab-
stimmung über das Materielle des Gesetzentwurfs; dagegen hat es, wie bereits berichtet,
gegen die §§ 2 und 4 mit der Minderheit gestimmt aus dem formellen Gesichtspunkt der
Verfassungsmäßigkeit. Eine auf diese Stellung bezügliche Erklärung ist auch, wie wir
hören, von der bayerischen Regierung ausdrücklich im Bundesrat abgegeben worden.“