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vielseitig gebildeter Offizier, der im Generalstabe wie als Schriftsteller reiche
Anerkennung gefunden und sich auch in einigen bürgerlichen Kreisen Berlins —
wegen seiner Jovialität — stets großer Beliebtheit erfreut hatte. Im Front-
dienst hatte er sich weniger versucht, somit auch nicht Gelegenheit gefunden, als
praktischer Truppenführer besonders hervorzutreten. Zunehmende Korpulenz
und mangelhafte Reitfertigkeit mochten ihm dabei hinderlich gewesen sein.
Aus der seinerzeit erfolgten Ernennung zum Gouverneur von Straßburg
wurde daher allgemein geschlossen, daß er nach dem Urteil der damals maßgebenden
Stellen die für den Posten eines kommandirenden Generals nötigen Eigen-
schaften nicht besäße, und die Verwendung in Straßburg nur als eine Ueber-
gangsstufe zum Rücktritt in den Ruhestand anzusehen sei.
Die Ueberraschung für die Armee, Herrn v. Verdy zum Kriegsminister
ernannt zu sehen, war also nicht unberechtigt, denn es ließ sich, wie man zu
sagen pflegt, zunächst kein Vers darauf finden.
Als nun sein Vorgänger, der Kriegsminister v. Bronsart der erste,
mehreren Personen gegenüber erklärt hatte, daß ser von Seiner Mazjestät nicht
aufgefordert worden sei, einen Nachfolger in Vorschlag zu bringen, er mithin
an der Berufung Verdys unbeteiligt wäre, gewann in militärischen Kreisen
die Annahme sehr bald Raum, daß jene Berufung das Werk des Grafen
Waldersee gewesen sein müsse, der damals für die in militärischen Personal-=
fragen und etlichen andern Dingen einflußreichste Persönlichkeit gehalten und
auch als Prätendent des Reichskanzlerpostens bezeichnet wurde.
Es hieß damals, Waldersee bereite die neue Wendung der Dinge durch
rechtzeitige Heranziehung der Leute vor, mit denen er seine späteren Siege zu
erfechten hoffe.
Gleichviel, ob das zutreffend war oder nicht; mancherlei sprach für Walder-
sees Einwirkung. — In Generalstabskreisen hatte schon seit längerer Zeit ver-
heute ist. — Nach dem Besuch der Kriegsakademie wurde er sehr bald als Hauptmann
in den Generalstab übernommen, dem er dann von 1858 (zuerst zur Dienstleistung kom-
mandirt) bis 1876 angehört hat. Vom Februar 1863 bis Ende Dezember 1865 (pol-
nische Insurrektion) war er dem Hauptquartier der Kaiserlich russischen Armee in Warschau
zugeteill; während des Krieges 1866 Generalstabsoffizier im Stabe des Kronprinzen,
1870/71 als Oberstlieutenant Abteilungschef im Generalstabe des Großen Hauptauartiers
Seiner Majestät; 1872 Chef des Generalstabes I. Armeecorps, 1876 Brigade-Komman-=
deur in Straßburg im Elsaß, demnächst Direktor des Allgemeinen Kriegsdepartements
im Kriegsministerium (Mitglied des Bundesrats und des Obersten Gerichtshofes für
Disziplinar-Angelegenheiten in Leipzig); nach dem Abgange des Generals v. Kamecke als
Kriegsminister etwas über vier Jahre Kommandeur der 1. Division, dann Gouverneur
von Straßburg im Elsaß; 1888 General der Infanterie, 1889 im Frühjahr Kriegs-
minister, aus welcher Stellung er am 1. Oktober 1890 auf sein Gesuch zur Disposition
gestellt wurde. Verdy gehört zu den glänzendsten Militärschriftstellern und ideenreichsten
Strategen der Neuzeit. Seine Schriften und Anleitungen sind für die Truppenführung
und die Ausbildung der Führer geradezu epochemachend geworden.