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Handelswesens einschließlich der Handelspolitik, deren hohe Bedeutung für das
Reich er nie verkannte, durfte er zunächst den ihm beigegebenen Männern um
so ruhiger überlassen, als er von der hervorragenden Tüchtigkeit des von ihm
erwählten Präsidenten des Reichskanzler-Amts, Staatsministers Dr. Delbrück
voll überzeugt war. Erst Mitte der siebziger Jahre konnte er dazu gelangen,
sich mit den letztbezeichneten Fragen, deren Detail ihm nach seiner gesamten
Vergangenheit ferner lag, eingehender zu beschäftigen. Daß er dies dann auch
sofort und mit der ihm eigenen Energie that, ist nicht nur der Ueberzeugung
von deren Wichtigkeit, sondern auch der Erkenntnis zu danken, daß diese An-
gelegenheiten zwar an sich in ausgezeichneter Weise, aber doch in einer mit den
Auffassungen des Kanzlers im Widerspruch stehenden Richtung behandelt wurden.
Delbrück ließ sich bei der Ausgestaltung des Zolltarifs, der Gewerbeordnung,
der Handelsverträge, der Steuergesetzgebung und der Eisenbahntarife im all-
gemeinen von den Grundsätzen eines weit fortgeschrittenen Freihandels leiten;
bei dem Reichskanzler befestigte sich, je mehr er sich mit diesen Fragen selbst
beschäftigte, um so stärker die Ueberzeugung, daß dieser Weg ein falscher sei,
daß die nationale Arbeit auf denjenigen Schutz der Gesetzgebung Anspruch hätte,
dessen sie zu gedeihlicher Wirksamkeit und Entwickelung auf allen Gebieten be-
dürfe. Es wurde dem Begründer des Reichs gewiß sehr schwer, der Möglichkeit
einer Trennung von seinem bewährtesten Mitarbeiter ins Auge zu sehen; nachdem
er aber bei fortgesetztem Studium eine Umkehr auf dem bisher befolgten Wege
als unabweisliche Voraussetzung für eine gesunde Entwickelung erkannt hatte,
zauderte er nicht, auch mit dieser so schmerzlichen Eventualität zu rechnen. Die
Aufgabe war eine gewaltige. Fast ohne Ausnahme waren nicht nur die auf
jenen Gebieten wirkenden Staatsmänner und Beamten, sondern auch die in
Wissenschaft und Erwerbsleben bedeutsameren Köpfe in Deutschland Anhänger
des Freihandels. Das laissez faire, laissez aller war damals ein allgemeines
Glaubensbekenntnis fast der gesamten Beamten= und Gelehrtenwelt geworden;
wer es wagte, Bedenken dagegen zu erheben, wurde als Böotier verketzert oder
gar eigennütziger Triebfedern bezichtigt. Nur ein Mann wie Bismarck konnte
einsichtig, furchtlos, wehrhaft und thatkräftig genug sein, um allen Vorurteilen
und Hindernissen zum Trotz die Fahne eines gemäßigten Schutzzolls zu entfalten,
dem Gebot der Zweckmäßigkeit im einzelnen Falle den Sieg über theoretische
Axiome auch auf dem Gebiete von Produktion und Handel zu sichern. Delbrück,
treu seinen Grundsätzen, erkannte bald die Notwendigkeit, sich vom Reichskanzler
trennen zu müssen. In dem bekannten Thüngenschen Briefe vom 15. Dezember
1878 verkündete Bismarck die Umkehr auf dem bisherigen Wege der Zollpolitik.
Um sein schwieriges Werk erfolgreich durchzuführen, bedurfte es sachkundiger
Hülfe; in Burchard fand er sie. Derselbe war im Herbst 1876 als Regierungs-
rat in das Reichskanzler-Amt berufen, und hier lenkte sich des Kanzlers Auf-
merksamkeit, insbesondere anläßlich der Thätigkeit Burchards bei den schwebenden