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Gotha, den 13. April 1880.
An Frau Wanda v. Koethe.
Die Kanzlerkrisis I) kann mit der gestrigen Abstimmung wohl als definitiv
beseitigt betrachtet werden, für die „Kleinen“ werden aber die Nachwehen nicht
ausbleiben. Mir machen sie sich jetzt schon in der unerfreulichsten Weise fühlbar.
Das erste Schriftstück, was mir Sonntag abend bei meiner Rückkehr in die
Hand kam, war eine Zuschrift des hessischen Gesandten Dr. Neidhardt, in der
er mich auffordert, die ihm erteilte Substitutionsvollmacht zurückzuziehen und
alsbald nach Berlin zu kommen, um selbst an der Lösung der eingetretenen
Verwickelung teilzunehmen. Auf meine an ihn gerichtete telegraphische Bitte hat
er sich bereit finden lassen, mich noch in der gestrigen Sitzung zu vertreten, in
einem mir soeben zugegangenen Schreiben lehnt er aber ganz entschieden ab,
die Vollmacht auch nur vorläufig fortzuführen. Was nun?
Wie es scheint, will man dauernde Substitutionen überhaupt nicht mehr
zulassen. Montag aber tritt in Coburg der gemeinschaftliche Landtag zusammen,
und da es doch kaum möglich ist, diesen ohne meine persönliche Beteiligung
tagen zu lassen, mir es aber ebensowenig möglich ist, mich zu teilen oder, wie
Cagliostro, gleichzeitig in Berlin und in Coburg anwesend zu sein, so kannst
Du Dir denken, daß ich mich in einer nicht geringen Verlegenheit befinde.
Augenblicklich habe ich noch keinen festen Entschluß gefaßt, vielmehr in
Berlin angefragt, ob Bertrab dort ist, und wenn dies der Fall, werde ich
zunächst versuchen, ihn zur Uebernahme meiner Vertretung zu bestimmen. Jeden-
falls hoffe ich von ihm zu erfahren, wie die Dinge eigentlich liegen, und ob
meine alsbaldige Anwesenheit in Berlin unbedingt geboten erscheint.
*
Gotha, den 16. April 1880.
An Frau Wanda v. Koethe.
Der Herzog telegraphirt mir: „Lassen Sie den Landtag im Stich und gehen
Sie nach Berlin.“ Dies stimmt auch mit meiner Auffassung zusammen, und so
habe ich mich denn schnell entschlossen und werde bereits heute nachmittag ab-
reisen. Hoffentlich werde ich nicht lange dort aufgehalten, denn angenehm
wäre es mir doch nicht, wenn ich meinen Landtag ganz im Stich lassen müßte.
Jedenfalls reise ich wieder ab, sobald der preußische Antrag auf Revision der
Geschäftsordnung des Bundesrats 2) erledigt ist, und bei der Hast, mit der die
Dinge jetzt in Berlin behandelt werden, darf ich wohl erwarten, daß die An-
1) Am 6. April 1880 hatte Bismarck seine Entlassung eingereicht wegen der Ab-
lehnung einer Stempelsteuer für Quittungen auf Postanweisungen im Bundesrat. Vgl. über
diesen Vorgang die „Nat.-Ztg.“ Nr. 162 v. 7. 4. 80.
2) Am 10. April 1880 legte Bismarck dem Bundesrat eine Denkschrift, betreffend die
Vorschläge zu einer Reform der Geschäftsordnung desselben, vor.