— 202 —
der Geschäftsordnung den Gedanken anzuregen, ob es sich nicht empfiehlt, die
bisherige Tradition, nach welcher alle wichtigeren Vorlagen in den Ausschüssen
vorberaten und vorbereitet werden, aufzugeben und dieser Praxis, nach dem
Beispiel des Reichstags, die Vorberatung im Plenum nach Bedürfnis zu sub-
stituiren und auch die Ausschußanträge in der Regel zwei Plenarsitzungen durch-
laufen zu lassen, bevor sie zum Beschluß erhoben werden können, so daß vor
der zweiten, definitiven eine erste Lesung stattzufinden haben würde, bei welcher
die Regierungen ihre Ansichten äußern können, ohne zu votiren; daß zwischen
diesen beiden Lesungen mindestens ein zu kurzer Berichterstattung hinreichender
Zeitraum bleibe, und daß von dieser Regel nur abgewichen werden könne, wenn
die Abweichung gegen weniger als 14 Stimmen beschlossen wird.
Für ganz unzulässig halte ich nach der Verfassung sowohl wie schon nach
der jetzigen Geschäftsordnung die Duldung von Teilnehmern an den Bundesrats-
sitzungen, welche dazu weder eine landesherrliche Legitimation haben noch unter
die, schon mit der Verfassung kaum verträgliche Ausnahme des § 19 der Ge-
schäftsordnung fallen.
Mit Rücksicht auf die vorstehenden Erwägungen und vorbehaltlich der
Vervollständigung und Erläuterung derselben beehre ich mich der Beschlußnahme
der hohen Versammlung im Namen Seiner Majestät des Kaisers den Antrag
zu unterbreiten:
der Bundesrat wolle eine Revision und Vervollständigung der Geschäfts-
ordnung vom 27. Februar 1871 beschließen.“ 1)
1) Schultheß bemerkt in seinem Geschichtskalender zu diesem Antrage Preußens:
Die vier Punkte dieses Antrags: Zweiteilung der Geschäfte in wichtige, deren Beratung
unter Anwesenheit der Minister stattfinden soll, und in laufende, ferner die Beschränkung
der Substitutionen, die Einführung zweier Lesungen und die Nichtzulassung von nicht aus-
drücklich ermächtigten Kommissaren, sind von sehr ungleicher Bedeutung. Am meisten
Berechtigung bat der zweite und nächst diesem der vierte Punkt. Die anderen Punkte aber
sind kaum geeignet, das Ansehen des Bundesrats zu erhöhen. Die „Nat.-Ztg.“ Nr. 176
v. 15. 4. 80 meinte, das Aktenstück sei von sehr großem Interesse und von bleibender
Bedeutung für die Entwicklung unserer Verfassungsverhältnisse im Reich. „Unverkennbar
drückt es von Anfang bis Ende die persönlichen Anschauungen des Fürsten Bismarck aus
und ist als ein Beitrag anzusehen, welchen der Urheber der Reichsverfassung zur Kommen-
tirung derselben liefert. Den einzelnen Ausführungen ist die vollste Beachtung gesichert.
Wir hegen kaum einen Zweifel daran, daß der Bundesrat denselben in umfassender Weise
entgegenkommen wird. Unsere Frage, wie in späteren Zeiten, wenn Fürst Bismarck
nicht mehr selbst den Gang der Maschine überwacht, sich dieselbe bewähren wird, ist frei-
lich nicht erledigt.“ In einem späteren Artikel, Nr. 182 v. 19. 4. 80, bemerkte dasselbe
Blatt: „Die Verhandlungen von Körperschaften, deren Mitglieder nicht nach ihrer freien
und unabhängigen Ueberzeugung, sondern nach Instruktionen stimmen, müssen stets einen
sehr unlebendigen Charakter tragen. Der Redner im Parlament wird sich auch dann der
Illusion hingeben, daß es ihm gelingen werde, einen Einfluß auf die Stimmung der Ver-
sammlung zu gewinnen, wenn thatsächlich alle Mitglieder der letzteren schon unwiderruflich
ihre Entschließung gefaßt haben. Jede Ueberzeugung kann einer besseren Ueberzeugung