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Der vorstehende Antrag wurde nicht dem Geschäftsordnungs-Ausschuß des
Bundesrats überwiesen, sondern es wurden sofort zwei Referenten, welche aller-
weichen, aber wenn die Mitglieder einer Versammlung nicht nach ihrer Ueberzeugung,
sondern nach den Befehlen eines Abwesenden stimmen müssen, so liegt die Unmöglichkeit
auf der Hand, durch Ueberredung auf sie einzuwirken. Im letzten Grunde liegt etwas
Widerspruchsvolles darin, daß Personen, von denen jede einzelne an schriftliche Instruktionen
gebunden ist, miteinander in mündlichen Verkehr treten. Das abschreckendste Beispiel dafür,
wohin ein solcher Verkehr nach Instruktionen führt, liefert der alte Bundestag. Jeder
Zwischenfall, jeder Abänderungsantrag, der gestellt wurde, schuf einen Zustand, in welchem
sich die Gesandten ohne Instruktion befanden, und damit trat das Bedürfnis ein, zur Ein-
bolung von neuen Instruktionen die Beratung zu vertagen, was dann notwendigerweise
zur Verschleppung der ganzen Angelegenheit führte. Bei der Gründung des Norddeutschen
Bundes hat man Sorge getragen, einem solchen Zustand, wie er unter dem alten Bundes-
tag bestanden hat, keinen Raum zu geben. Mit dem Einwande, keine Instruktionen er-
halten zu haben oder auf Instruktionen warten zu müssen, wird niemand gehört. Die
Klausel der Verfassung, daß nicht instruirte Stimmen nicht gezählt werden, schließt jede
Verschleppung aus. Es läßt sich ja nicht verkennen, daß die Arbeiten des Bundesrats an
Promptheit nie etwas zu wünschen übrig ließen. Die Mitglieder des Bundesrats sind
also zu jeder Zeit instruirt gewesen; aber wie ist das ermöglicht worden? Es hätte sich
vielleicht schon früher einmal gelohnt, die Frage aufzuwerfen, in welcher Weise die mit
Arbeitskräften nicht überreichlich ausgestatteten Kleinstaaten die Aufgabe gelöst haben, über
jede der auftauchenden Vorlagen, selbst zur Zeit der gesetzgeberischen Hochflut, ihren Ver-
treter rechtzeitig und ausgiebig zu instruiren. Die Motivirung, welche dem preußischen
Antrage jetzt beigegeben worden ist, reißt freilich den Schleier hinweg; wir haben nicht
mehr nötig, darüber nachzudenken, in welcher Weise dieses Rätsel zu lösen ist, sondern die
höchst natürliche Auflösung desselben ist uns in die Hände gegeben. Die Instruktionen
der Gesandten haben in Substitutionsfällen meist dahin gelautet, den Ausschußanträgen
zuzustimmen, und diese Instruktion wurde nicht selten erteilt, ehe der Ausschußantrag noch
bekannt war. Auf diese Weise kann man es freilich vermeiden, um Aufschub bebufs Ein-
holung von Instruktionen zu bitten; man wird auch immer einen instruirten Gesandten
haben., aber die Institution des Bundesrats wird in dieser Weise denaturirt. Es wird
den Ausschüssen eine Bedeutung beigelegt, welche ihnen nach der Verfassung nicht gebührt,
und die Plenarsitzungen sinken zu einer bedeutungslosen Formalität herab, bei welcher es
sich lediglich darum handelt, die Ausschußbeschlüsse zu sanktioniren. Nach der Anschauung,
welche für den Schöpfer der Reichsverfassung maßgebend war, sollten die gouvernementalen
Erfahrungen, die auch in dem kleinsten Staate gesammelt werden können, Gelegenheit finden,
sich zu bethätigen. Aus diesem Grunde wurde, im Mißverhältnis zur Bevölkerungszahl,
dem kleinsten Staat ein volles Virilstimmrecht beigelegt. Wenn aber die kleinen Staaten
ganz und gar darauf verzichten, ihre eigenen gouvernementalen Erfahrungen mitsprechen
zu lassen, wenn sie sich darauf beschränken, eine Blankovollmacht auszustellen, um Be-
schlüsse zu unterstützen, die sie noch gar nicht kennen, so ist das Gewicht der ihnen ein-
geräumten Stimme offenbar um vieles zu groß. Die Geschäftsordnung des Bundesrats,
wie sie bisher in Geltung gewesen, steht also mit den organischen Gedanken, aus denen
die Reichsverfassung hervorgegangen, keineswegs in Einklang. Gar zu verwunderlich ist
das nicht. Die Geschäftsordnung des Bundesrats, über deren Geschichte wir in keiner
Weise unterrichtet sind, wird nicht mit allzu großer Sorgfalt ausgearbeitet worden sein;
ihre Entstehung fällt in den Februar 1871, in die Tage der Versailler Verhandlungen,
als ganz andere Interessen die Gemüter erfüllten.“