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Nachdem Mitte Mai die Mitglieder der Bundesratskommission, welche sich
zur Kenntnisnahme thatsächlicher Verhältnisse bei Aufstellung einer neuen Zoll-
grenze in Hamburg an Ort und Stelle begeben hatten, nach Berlin zurück-
gekehrt waren, genehmigten am 19. Mai 1880 die Bundesratsausschüsse einen
neuen Antrag Preußens auf Einverleibung Altonas in die Zollgrenze ohne die
hamburgische Vorstadt St. Pauli einstimmig, und in der Bundesratssitzung vom
22. Mai 1880 1) wurde der in dem mündlichen Bericht des dritten und vierten
Ausschusses über die Anträge Preußens und Hamburgs, betreffend die Ein-
verleibung der Stadt Altona in das Zollgebiet, gemachte Vorschlag, die Ein-
verleibung zu beschließen, vorbehaltlich der näheren Modalitäten der Ausführung
einstimmig angenommen. Damit — respektive mit dem Verzicht Preußens auf
Einverleibung St. Paulis — war der hamburgische Gegenantrag als erledigt
erklärt.
Eine Debatte über den preußischen Antrag fand nicht statt. Die eventuell
zu ziehende Zollgrenze betreffend erfuhren die „Altonaer Nachrichten“, daß von
staaten zu erörtern. Da die vorliegende Frage, der offiziösen Versicherung unerachtet, mit
allen denjenigen Staaten, bei welchen Preußen einen Gesandten beglaubigt hat, auf dem
diplomatischen Wege erörtert wird, so wäre es vielleicht nicht ganz unmöglich gewesen, sie
auch mit dem nachstbeteiligten Hamburg vertraulich zu erwägen. Den Ausführungen,
welche darauf abzielen, der Erhebung verfassungsmäßiger Kompetenzbedenken im Schoße
des Bundesrats möglichst vorzubeugen, können wir uns nur aus vollem Herzen anschließen.
Wir können hinzufügen, daß es uns kein erfreuliches Gefühl sein würde, wenn wir einmal
in die Lage kommen sollten, in einer Frage der Auslegung der Reichsverfassung dem
Bundesrat gegen Preußen recht zu geben. Aber wir können uns nicht verhehlen, daß
wir in diese Lage versetzt werden müßten, wenn einmal der Fall eintreten sollte, daß der
Bundesrat ganz unzweifelhaft recht und Preußen ganz unzweifelhaft unrecht hat. Was
den vorliegenden Fall anbetrifft, so hoffen wir allerdings, in diese Lage nicht versetzt zu
werden. Der vorliegende Erlaß enthält Anzeichen, daß auf preußischer Seite eine Auf-
fassung zum Durchbruch kommt, welche einer freundschaftlichen Verständigung den Weg
bereitet. Der Erlaß unterscheidet zwei Punkte, einen, bei welchem Preußen unbeugsam
bleiben muß, einen anderen, bei welchem es Nachgiebigkeit üben kann. Der erste Punkt
beißt Altona, der zweite heißt St. Pauli. In Beziehung auf die Frage Altona halten
wir die Rechtsauffassung der preußischen Regierung für eine vollkommen begründete, wenn
wir auch bedauern, daß eine Lösung der Frage nicht durch die Gutachten der interessirten
Lokalbehörden vorbereitet ist. Auch beharren wir bei der Ansicht, daß die Einverleibung
Altonas nicht so dringend ist, daß nicht die Uebergangsmodalitäten mit der vollsten Ruhe
erwogen werden könnten. Jedenfalls kann die Angelegenheit Altona zu einem ernsten
Konflikt keinen Anlaß geben. Und in Betreff von St. Pauli dürfen wir nunmehr die
Hoffnung hegen, daß Preußen bereit sein wird, den Konflikt aus dem Wege zu räumen.“
Im Gegensatz hierzu erklärte die „Post“ Nr. 125 v. 9. 5. 80 den obenstehenden Erlaß
Bismarcks für ein sehr bedeutungsvolles und die Entwicklung des Reiches hoffentlich in
wohlthätiger Weise beeinflussendes Aktenstück.
1) Nach Kohls Bismarck-Regesten beschloß der Bundesrat die Einverleibung von
Altona in das Zollgebiet am 20. Mai 1880. Dieses Datum ist falsch. Am 20. Mai
fand eine Sitzung des Bundesrats nicht statt.