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der Reichstag ihm gegenüber seine Unabhängigkeit wahrt und den Bundesrat
in seine verfassungsmäßigen Schranken verweist, welche ihm zur Steuerbewilligung
nur gestatten, Vorlagen zu machen, für Prüfung von Wahlen oder Rechnungen
ihm aber gar keine Einwirkung auf den Reichstag gewähren. Die verfassungs-
mäßigen Rechte des Reichstags haben keine andere Quelle und Bürgschaft als
die des Bundesrats. Beide beruhen auf der Verfassung und den Bundes-
respektive Zollverträgen, und beide können nicht verletzt werden, ohne den Boden
zu erschüttern, auf dem sie beide gewachsen sind. Wir glauben nicht, daß eine
irgend erhebliche Anzahl von Mitgliedern des Deutschen Reichstags von ihren
Wählern das Mandat erhalten haben kann, die Stärke unserer Reichseinrichtungen
dadurch auf die Probe zu stellen, daß sie im Reichstage Versuche anstiften,
dem Bundesrat seinen Anteil an der Regierung zu schmälern respektive zu ent-
reißen, um denselben auf die Führer der Fraktionen im Reichstage zu über-
tragen. Wir sind sicher, daß die Anstifter dieses Versuches die Mehrheit des
deutschen Volkes nicht auf ihrer Seite haben werden.“
Aus der Gleichgültigkeit, mit welcher sich zu Anfang unserer Session der
Wechsel im Vorsitz des Bundesrats vollzogen hatte, schloß die „National-Zeitung"“
auf einen Mangel an Interesse an der Institution selbst, um die es sich handelte,
und sie konnte darin kein gutes Zeichen erblicken: „Keinem Volk ist das Studium
der Geschichte nützlicher und notwendiger als dem deutschen. Es ist doch
wahrlich kein Zufall, daß Deutschland mit einer von außen ihm auferlegten
Pause einen Regensburger Reichstag und einen Frankfurter Bundestag über
sich ergehen lassen mußte. Es müssen der deutschen Entwicklung, dem deutschen
Charakter anhaftende Qualitäten sein, welche zu einem solchen Einspinnen in
Formalitäten, zu einer solchen Verknöcherung geführt haben, wie sie jene Körper-
schaften darstellten. Nun sind wir weit entfernt, den Bundesrat auf eine Stufe
mit jenen Körperschaften stellen zu wollen. Die außerordentliche gesetzgeberische
Fruchtbarkeit der letzten zwölf Jahre allein schon hebt ihn sachlich turmhoch
über jenen Vergleich hinaus. Ausgezeichnete Verwaltungstalente sind in ihm
thätig, und es ist selten möglich gewesen, gegen die Handhabung des Reichs-
dienstes, soweit er dem Bundesrat aufliegt, etwas Begründetes zu sagen. Das
einzige, was in dieser Richtung bemerkt werden könnte, ist die Abwesenheit fast
aller Initiative in dem Bundesrat; der Anstoß ist immer von außen gekommen,
und die Richtung, die er gab, war dann eben die des Bundesrats. Daß sich
selbständig in ihm etwas entwickelt hätte, haben wir nie gehört. Man wird sagen,
daß der Bundesrat zur Initiative keine Zeit gehabt, daß er keinen Atem genug hatte,
derjenigen zu folgen, die ihm von außen gegeben wurde, daß er in den seltenen
Anläufen zu einer Initiative, die er gemacht, Erfahrungen sammelt, die ihn von
allen solchen Extravaganzen gründlich geheilt haben. Wir lassen das alles gelten;
die Thatsache bleibt deshalb doch bestehen, und sie ist charakteristisch.