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läßt erkennen, daß bei der Ausarbeitung des letzteren diese Vorschläge in
wesentlichen Punkten (Organisation der Versicherungsverbände, Einheitsrenten,
Ortsklassen. Reichszuschuß) benutzt sind.
In dieser Denkschrift vertrat Geheimrat Gamp den Standpunkt, daß die
Alters= und Invalidenfürsorge nicht auf dem Boden des Privatrechts und nach
den Grundsätzen der Privatversicherung geregelt werden dürfe. Die allgemeine
Fürsorge für die erwerbsunfähig Gewordenen habe sich historisch als eine
öffentliche Pflicht entwickelt und könne auch nur auf dem Boden des öffentlichen
Rechts erreicht und sichergestellt werden; bei ihr handle es sich nicht um eine
privatrechtliche Versicherung der Arbeiter, sondern um eine der Humanität und
den Forderungen des praktischen Christentums entsprechende Umgestaltung der
öffentlichen Fürsorge. Aus dieser Auffassung der Fürsorgepflicht ergebe sich die
Konsequenz, daß die Beiträge der Arbeiter nicht ausschließlich nach dem der
Kasse verursachten Risiko, sondern in erster Reihe nach der Leistungsfähigkeit
der Versicherten bemessen werden müßten, daß ferner für die Höhe der zu
gewährenden Renten nicht die Höhe der gezahlten Prämien, sondern vor allem
das Bedürfnis der Arbeiter entscheidend sein müsse, und daß demgemäß eine
jede Karenzzeit, die bei der Privatversicherung zum Schutz gegen unberechtigte
Inanspruchnahme der Kasse unerläßlich sei, in Fortfall kommen müsse.
Nach den Bestimmungen, die für gesetzgeberische Arbeiten aller Art vor-
geschrieben waren, mußten dem Fürsten Bismarck vor Ausarbeitung des dem-
nächst im Reichsamt des Innern ausgearbeiteten Gesetzentwurfs die Grundzüge
desselben vorgelegt werden, und der Kanzler muß sich damit wohl einverstanden
erklärt haben. Aus diesem generellen Einverständnis zu dem Gesetzentwurfe
darf man aber nicht schließen, daß Bismarck mit allen Detailbestimmungen des-
selben einverstanden war. So viel ist sicher: der von Boetticher dem Fürsten unter-
breitete Entwurf fand in seinen Detailbestimmungen nicht in dem Maße das
Interesse des letzteren, daß er sich dazu verstanden hätte, im einzelnen daran die
bessernde Hand zu setzen, wie er es zum Beispiel an den drei Unfallversicherungs-
entwürfen gethan hatte. Bismarck erwartete außerdem anfangs wohl nicht, daß der
Entwurf schon bei der ersten Vorlage im Reichstage durchgehen würde. Infolge
dessen ging die ganze Verantwortung auf Herrn v. Boetticher über. In der
entscheidenden Sitzung des Reichstags vom 29. März 1889 anerkannte Bismarck
gerne dessen Thätigkeit: „Namentlich in diesen jetzt vorliegenden Fragen bin ich
durch meinen Kollegen ja mehr als ersetzt. Ich hätte das, was er in dieser
Sache gethan und geleistet hat, selbst nicht leisten können, auch selbst, wenn ich
in der Möglichkeit gewesen wäre, mich ausschließlich dieser Angelegenheit zu
widmen. Jeder hat sein eigenes Fach, und in diesem Fache sehe ich neidlos
das Verdienst meines Herrn Kollegen als das größere an als das meinige. 1)
1) Ueber Bismarcks ursprüngliche und nachträgliche Stellung zu dem Gesetz findet
man Mitteilungen in den „Hamburger Nachrichten“ v. 20., 24. und 29. Dezember 1891.