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In einem an den Bundesrat gerichteten Schreiben sprach der Reichskanzler
aus, daß er sich für eine Regelung der Angelegenheit auf dieser Grundlage
nicht aussprechen könne. Er erkenne die bezeichneten Nachteile für Bayern an
und sei gern bereit, darauf hinzuwirken, daß diese Nachteile innerhalb der zu-
lässigen Schranken gemildert werden. Er beantragte schließlich an Stelle der
bisherigen Grundsätze folgende Bestimmungen zu setzen: Die Ein= und Durch-
fuhr lebenden Rindviehs sowie frischen Fleisches von Rindvieh, Schafen und
Ziegen aus Oesterreich-Ungarn sei bis auf weiteres zu verbieten; den beteiligten
Bundesstaaten bleibe jedoch anheimgegeben, hinsichtlich des Verkehrs mit Nutz-
und Zuchtvieh, welches aus notorisch seuchefreien Grenzbezirken stammt und nicht
für den weiteren Handel, sondern zur Weide oder Einstallung innerhalb eines
inländischen Grenzbezirkes bestimmt ist, Ausnahmen von dem Verbot insoweit
zuzulassen, als die erforderlichen Garantien dafür zu schaffen sind, daß dergleichen
Ausnahmebewilligungen nicht gemißbraucht werden.
Das zweite Sozialistengesetz. Sogleich in der ersten Sitzung des
Bundesrats am 14. August brachte der Stellvertreter des Reichskanzlers Graf
Otto zu Stolberg als Antrag Preußens den Entwurf eines Gesetzes gegen die
gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ein. 1) Der Entwurf war
den Mitgliedern erst am 13. August abends zugegangen; von „Motiven“ war
der Entwurf noch nicht begleitet; derselbe wurde sofort dem Justizausschuß
überwiesen.
In der Sitzung des Bundesrats vom 27. August gelangte der Bericht des
Justizausschusses über den Entwurf zur ersten Beratung. Als Referent fungirte
der bayerische Appellationsgerichtsrat Kastner. Der Justizausschuß beantragte,
dem Entwurfe unter einer Reihe von Abänderungen zuzustimmen. 2) An Stelle
1) Abgedruckt in der „Nordd. Allg. Ztg.“ Nr. 192 v. 15. 8. 78 u. der „Nat.-Ztg.“
Nr. 381 v. 14. 8. 78, die wesentlichen Bestimmungen in der „Prov.-Corr.“ v. 14. 8. 78.
Die Behauptung, daß die Einbringung des gegen die Sozialdemokratie gerichteten Gesetz-
entwurfs in den Bundesrat verzögert worden sei, um das Ergebnis der Wahlen abzuwarien,
beruhte auf Erfindung. Der Entwurf wurde nach Genehmigung desselben durch das
Staatsministerium und sodann durch Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit den Kron-
prinzen den Bundesregierungen zunächst vertraulich mitgeteilt und nur mit Rücksicht hierauf
die formelle Vorlegung verschoben.
2) Mutmaßungen über den Gang der Ausschußberatungen in der „Nat.-Ztg.“ Nr. 386
v. 17. 8. 78 u. 388 v. 18. S. 78. Hiernach hatte sich das Hauptbedenken gegen das
„Reichsamt für Presse und Vereinswesen“ gerichtet. Namentlich soll Bayern und nicht
minder Württemberg und Sachsen sich dagegen erklärt haben. Von verschiedenen Seiten
wäre das künftige Reichsgericht an Stelle jenes Reichsamts als Beschwerdeinstanz vor-
geschlagen worden. Auch ein anderer Ausweg, welcher gegen die besorgten Eingriffe in die
innere Verwaltung der Einzelstaaten dadurch schützen sollte, daß man denselben eine Mit-
wirkung bei der Bildung des Reichsamts zugestehen wollte, fand nicht die erforderliche
Zustimmung.