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Ein Fabrikant in Cöln, welcher Verkehrsbeziehungen nach allen Richtungen
Deutschlands unterhält, hat gegenwärtig, wenn er sich selbst über die geltenden
Frachtsätze unterrichten will, nicht weniger als 36 Tarife nötig. Für seine
Beziehungen mit dem Ausland braucht er außerdem eine entsprechende Anzahl
von Tarifen, und trotzdem wird er wegen der häufig erscheinenden Nachträge
doch nicht immer in der Lage sein, die Frachtsätze mit Zuverlässigkeit voraus
berechnen zu können.
Diese Zahlen sprechen für sich und bedürfen eines weiteren Kommen-
tars nicht.
Bezüglich der durch die Einführung des Reformtarifsystems erstrebten Einheit
ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Annahme der vereinbarten schematischen
Klassifikation von der freien Entschließung der Bahnen abhängig ist, und daß
ihnen ebenso freisteht, Abänderungen und Ergänzungen nach ihrem Ermessen
vorzunehmen. Von dieser Befugnis haben, wie eine Durchsicht der Tarifhefte
ergibt, auch diejenigen Bahnen, welche das Reformtarifschema ihren Tarifen zu
Grunde gelegt haben, reichlichen Gebrauch gemacht.
Durch die im weitesten Umfang zugelassenen Ausnahmen bezüglich einzelner
Produktionsartikel sowie durch die fortwährend eingetretenen Deklassifizirungen
innerhalb der drei Spezialtarife werden ferner, wie die stattliche Zahl der Aus-
nahmetarife von 1370 sowie die bis jetzt in nicht weniger als 28 Punkten
getroffenen Aenderungen in der Nomenklatur der Güter der Spezialtarife zeigen,
die Vorteile der gemeinsamen Klassifikation empfindlich geschmälert. Ausnahme-
tarife pflegen auf Antrag einzelner Kaufleute oder Industrieller oder eines
immerhin mehr oder minder begrenzten Kreises von Interessenten zugelassen zu
werden, denen sie einen augenblicklichen Vorteil verschaffen, während die Kon-
kurrenten desselben Industriezweiges, welche von der eintretenden Ausnahme-
tarifirung beziehungsweise der vorzunehmenden Deklassifizirung erst später
erfahren, dadurch nicht selten auf das empfindlichste geschädigt werden.
Von einem Einheitstarife kann bisher um so weniger die Rede sein, als die
Festsetzung der Maximalsätze jederzeit von den Aufsichtsbehörden geändert werden
kann, und als den Bahnen innerhalb der Grenzen der Maximaltarife die freie
Bewegung nach unten gelassen worden ist. Während in Preußen vor der
Einführung des Reformtarifsystems bei vielen Bahnen jede Tarifveränderung,
auch das Hinuntergehen unter ein bestimmtes Tarifminimum, an die Ge-
nehmigung der Aufsichtsbehörde gebunden war, hat man sich sogar jetzt dieses
Rechts begeben, indem den Eisenbahnen, wenigstens für die Dauer der Bei-
behaltung des Reformtarifsystems, die unbeschränkte Normirung des Tarifs nach
unten hin gestattet worden ist.
Endlich ist in Betracht zu ziehen, daß durch den Bundesratsbeschluß vom
14. Dezember 1876 nur erklärt worden ist, daß von seiten des Reichs gegen
die Einführung des Systems im allgemeinen nichts einzuwenden sei, mit der