150 XV. Bruch mit den Conservativen. Intrigen. Die Ressorts.
sonst anerkennen, für entbunden halten und aus einer karikiren-
den Uebertreibung des Satzes salus publica suprema lex die
Rechtfertigung für Gemeinheiten und Rohheiten in Sprache
und Handlung ableiten, durch die sie sich außerhalb der
politischen und religiösen Streitigkeiten selbst angewidert fühlen
würden. Diese Lossagung von allem, was schicklich und ehr-
lich ist, hängt undeutlich mit dem Gefühle zusammen, daß
man im Interesse der Partei, das man dem des Vaterlandes
unterschiebt, mit anderem Maße zu messen habe, als im Privat-
leben, und daß die Gebote der Ehre und Erziehung in Partei-
kämpfen anders und loser auszulegen seien, als selbst im
Kriegsgebrauch gegen ausländische Feinde . . Welcher gebildete
und wohlerzogene Deutsche würde versuchen, im gewöhnlichen.
Verkehr auch nur einen geringen Theil der Grobheiten und
Bosheiten zur Verwendung zu bringen, die er nicht ansteht,
von der Rednertribüne vor hundert Zeugen seinem bürgerlich
gleich achtbaren Gegner in einer schreienden, in keiner an-
ständigen Gesellschaft üblichen Tonart in's Gesicht zu werfen?
Wer würde es außerhalb des politischen Parteitreibens mit
der von ihm selbst beanspruchten Stellung eines Edelmannes
von gutem Hause verträglich halten, sich in den Gesellschaften,
wo er verkehrt, gewerbsmäßig zum Colporteur von Lügen
und Verleumdungen gegen andere Genossen seiner Gesellschaft
und seines Standes zu machen? .. BSobald man aber vor
dem eigenen Gewissen und vor der Fraction sich damit decken
kann, daß man im Parteiinteresse auftritt, so gilt jede Ge-
meinheit für erlaubt oder doch für entschuldbar.“
Als Bismarck die Verleumdungen der „Kreuzzeitung“
öffentlich vor dem Reichstage brandmarkte (9. Februar 1876)
und die Conservativen aufforderte, sich von einem solchen
Blatte loszusagen, ) antwortete ihm die Kundgebung der sog.
Declaranten, meist evangelische Geistliche, die dadurch in
Bismarcks Augen sich zu Eideshelfern der „Kreuzzeitungs-
lügen“ machten und Bismarcks Mißtrauen „gegen Politiker
in langen Kleidern, weiblichen und priesterlichen“, durch ihr
1) Politische Reden VI 351.