Full text: Wegweiser durch Bismarcks Gedanken und Erinnerungen. (3)

192 XIX. Die Wiederherstellung des Staatsraths. 
ist nach Bismarcks langjähriger Erfahrung unvollkommen. Nur 
wenige Minister sind in der Lage, die Bedürfnisse der ihrem 
Ressort zugetheilten Zweige des praktischen Lebens genau zu 
kennen; in vielen Fällen sind sie allein auf die Vorschläge 
ihrer vortragenden Räthe angewiesen, die die Frucht nicht 
brechen vom grünen Baume der Erfahrung, sondern von den 
dürren Aesten der Theorie, und, im Bewußtsein der eigenen 
Unkenntniß, blind vertrauend auf die Fähigkeit der Herren, 
die ihnen die Gesetzentwürfe in oft recht stattlichen Reihen von 
Paragraphen und wohl motivirt fertig in die Hand legen, 
geben sie ihre Zustimmung zu gesetzgeberischen Maßregeln, 
von deren Tragweite auf dem Gebiete des praktischen Lebens 
sie keine Ahnung haben. Was dem Ressortminister fremd ist, 
wird den übrigen Ministern, die mit jenem zusammen das 
Staatsministerium bilden, erst recht fremd sein, namentlich 
wenn sie auf der Stufenleiter der bureaukratischen Hierarchie 
zu dem Ministersessel emporgestiegen sind. Dazu kommt, daß 
die meisten Minister vergessen, daß sie „Staatsminister 
mit solidarischer Verantwortlichkeit für die Ge- 
sammtpolitik“ sind, und sich „auf das Bestreben“ be- 
schränken, ihr Ressort einwandfrei zu verwalten, die Geldmittel 
dazu von dem Finanzminister und dem Landtage bewilligt zu 
erhalten und parlamentarische Angriffe auf ihr Ressort mit 
Beredsamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung ihrer 
Untergebenen erfolgreich abzuwehren.“ Auch im Landtage und 
im Reichstage werden ungeschickte Gesetzentwürfe nicht immer 
richtig gestellt; selbst „ministerieller Unsinn“ geht mitunter 
„glatt durch die parlamentarischen Stadien, namentlich wenn 
es dem Verfasser gelingt, den einen oder andern einflußreichen 
oder beredten Freund für sein Erzeugniß zu gewinnen.“ Man 
täusche sich doch ja nicht über die Arbeitslust und Befähigung 
unserer Parlamentarier. „Die meisten Abgeordneten lesen und 
prüfen nicht, sondern fragen die für eigene Zwecke arbeitenden 
und redenden Fractionsführer, wann sie in die Sitzung kommen 
und wie sie stimmen sollen.“ Das ist leider bittere Wahrheit, 
und nichts hat unser parlamentarisches Leben in der Achtung 
der Nation so heruntergebracht, als die Pflichtvergessenheit
	        
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