10 III. Die „Gedanken und Erinnerungen“ als Geschichtswerk.
doctrinäre Wesen nur zur Versteinerung führe oder, wie er mit
Goethes Wort zu sagen pflegte, alle Theorie grau, des Lebens
gold'ner Baum aber grün sei. Das nachgelassene Werk Bis-
marcks, las ich jüngst in einem Artikel, ist besonders groß in
dem, was es nicht sagt. Das klingt geistreich, ohne es zu
sein. Denn wenn zum Beweise tendenziösen Schweigens an-
geführt wird, daß Fürst Bismarck kein Wort vom deutsch-
französischen Kriege sage, so frage ich: Was in aller Welt
sollte denn Fürst Bismarck über den Verlauf des deutsch-
französischen Krieges sagen? Seine Absicht war ja nicht, ein
Geschichtsbuch zu schreiben, das über Alles und Jedes Rechen-
schaft giebt, was zu seiner Zeit geschehen ist, er hatte nur das
Bedürfniß, über die leitenden Gedanken seiner Politik sich aus-
zusprechen, über das, was er erstrebte, was er erreichte und
was er von der Zukunft erhoffte. Ueber die Ursachen und
die Veranlassungen des deutsch-französischen Krieges giebt das
Capitel von der Emser Depesche jede nothwendige Auskunft;
die Geschichte dieses Krieges zu schreiben, konnte gar nicht der
Beruf des Diplomaten sein, und über die den Krieg begleitenden
diplomatischen Verhandlungen darf der Historiker aus einer
solchen Fülle deutscher und nichtdeutscher Quellen schöpfen,
daß Fürst Bismarck, der ja selbst in umfangreichen Denkschriften
über seine Verhandlungen in Ferrières, Versailles 2c. vor der
breitesten Oeffentlichkeit Bericht erstattet hat, in seinen „Ge-
danken und Erinnerungen“ kaum wesentlich Neues hätte melden
können. Dieses Schweigen ist also keineswegs auffällig.!) Der
französische Kritiker findet es tendenziös; auch noch eine andere
Tendenz glaubt er gefunden zu haben: „In dem ganzen Werke“,
sagt sein deutscher Nachbeter, „soll sich, wenn auch nicht klar
ausgesprochen, so doch zwischen den Zeilen deutlich erkennbar,
das Bestreben zeigen, à diminuer la grandeur du premier
Kaiser“ — „die Größe des Kaisers Wilhelm I. zu verkleinern“.
1) Am wenigsten für mich. Als ich den Fürsten Bismarck im
Jahre 1893 fragte, ob er nicht die Vorgeschichte des deutschen Krieges von
1866 ausführlicher darstellen wolle, lehnte er es ab unter Hinweis auf
die zahlreichen Depeschen, die von preußischer und österreichischer Seite
darüber veröffentlicht worden seien — er wolle nicht die Geschichte seiner
Zeit schreiben, dazu fehle ihm auch das Actenmaterial.