30 V. Die Revolution u. Friedrich Wilhelms IV. deutsche Bestrebungen.
der Lebenskraft der deutschen Dynastien und ihrer Staaten
seitens der Frankfurter Versammlung und einer Ueberschätzung
der revolutionairen Kräfte und der revolutionairen Agitation
seitens des Königs. Die Achtung vor der „Legitimität“, die
Furcht vor der „Barrikade“ ließen den König den rechten Augen-
blick versäumen, an der Spitze der deutschen Fürsten nach sieg-
reicher Niederwerfung der Revolution ein deutsches Einheits-
gebilde herzustellen; zur Ablehnung der von der Frankfurter
Versammlung ihm angebotenen Kaiserkrone (3. April 1849) be-
stimmte ihn hauptsächlich der revolutionaire oder doch parlamen-
tarische Ursprung des Anerbietens und der Mangel eines staats-
rechtlichen Mandats des Frankfurter Parlaments bei mangelnder
Zustimmung der Dynastien. Im Rückblick auf die damalige
Lage, Personen und Zustände muß Fürst Bismarck das Preußen
Friedrich Wilhelms IV. für nicht reif erklären zur Uebernahme
der Führung in Deutschland, aber er macht kein Hehl daraus,
daß diese aus dem Verlaufe der geschichtlichen Entwickelung
gewonnene Ansicht nicht mit gleicher Klarheit damals in ihm
lebendig war. Seine Freude über die Ablehnung der Kaiserkrone
beruhte weniger auf einer genauen Kenntniß des Charakters
Friedrich Wilhelms IV., als auf dem Mißtrauen in den par-
lamentarischen Ursprung des preußischen Erbkaiserthums und
die ganze Entwickelung der Dinge seit den Barrikaden von 1848
mit ihren parlamentarischen Consequenzen. Er folgte darin
den Anschauungen seiner politischen Freunde, der Führer seiner
Fraction, als Parteimann, der in verba magistri schwörend
jedem Gegner mit Mißtrauen oder Feindschaft begegnet. Indem
Bismarck dieses Bekenntniß ablegt, nimmt er die Gelegenheit
wahr, das Fractionsleben sonst und jetzt zu vergleichen, und
recht aufmerksam sollten die goldenen Worte gelesen werden:
„Das politische Streberthum hat heute mehr Antheil an dem
Bestehen und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren;
die Ueberzeugungen waren damals aufrichtiger und ungeschulter,
wenn auch die Leidenschaften, der Haß und die gegenseitige
Mißgunst der Fractionen und ihrer Führer, die Neigung, die
Landesinteressen den Fractionsinteressen zu opfern, heut vielleicht
stärker entwickelt sind Byzantinismus und verlogene Specu-