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richten. Seit der zweiten Hälfte des 18. und
mit Anfang des 19. Jahrh. begann sich die
Bevölkerungspolitik der deutschen Staaten zu
ändern. Die Gebundenheit der Unfreien hörte
mit der Beseitigung der Leibeigenschaft auf,
und auch sonst wurden die Auswanderungs-
beschränkungen teils beseitigt, teils gemildert.
Mit dem Prinzip der Freizügigkeit kam auch
das in ihr enthaltene Prinzip der Muswan-
derungsfreiheit immer mehr zur Geltung.
Nachdem im Anschlusse an die franz. Gesetz-
gebung auch in Deutschland der Begriff einer
besonderen, vom Domizil unabhängigen Staats-
angehörigkeit geschaffen war, schließt nunmehr
der Begriff der Auswanderungsfreiheit ein
doppeltes Recht in sich: einmal das Recht, die
Staatsangehörigkeit aufzugeben, also das
Recht jedes Staatsangehörigen, die Entlassung
aus dem Staatsverbande zu fordern (s. Staats-
angehörigkeit), sodann das Recht, unter
Beibehaltung der Staatsangehörigkeit und
unabhängig von dieser seinen Wohnsitz im
Auslande zu nehmen, sich außerhalb des bis-
segen Staatsgebietes dauernd niederzulassen
Auswanderung im engeren Sinne).
In Preußen war die Freiheit der Auswan-
derung bereits in den Bestimmungen des
ALR. U. 17 §8 127— 140 grundsätzlich an-
erkannt. Diese Vorschriften besagten, daß
außer den Kantonisten oder vaterlosen Waisen
(§8§ 128, 129) einem jeden, wenn nicht die
Provinzialgesetze ein besonderes Verbot ent-
hielten (8 130), die Auswanderung freistehen
solle, und daß es dazu nur eines Vorwissens
und keiner Erlaubnis des Staates bedürfe.
Es war also nur Anzeige des Auswandernden
erforderlich. Infolge der schwierigen politischen
Verhältnisse der preuß. Monarchie nach dem
Tilsiter Frieden wurde die Auswanderungs-
freiheit des ALR. zwar zeitweilig aufgehoben,
aber bereits 1818 wieder hergestellt, und in
der preuß. Verfassung wurde in Art. 11 aus-
drüchklich bestimmt, daß „die Freiheit der Aus-
wanderung von Staats wegen nur in bezug
auf die Wehrpflicht beschränkt werden" dürfe.
Dieser Grundsatz ist in der Mehrzahl der
einzelstaatlichen Verfassungsgesetze zum Aus-
druche gelangt, und die Reichsgesetzgebung hat
sich ihm angeschlossen. Das Paßgesetz (s. Paß-
wesen) bestimmt im §1, daß Bundesangehörige
i Ausgange aus dem Bundesgebiete keines
eisepapieres bedürfen. Das gleiche ist im 8§ 2
für Ausländer beim Austritt über die Grenze
des Bundesgebietes bestimmt. Das StAng G.
((. Staatsangehörigkeit), welches im § 15
diesenigen, im wesentlichen durch die Wehr-
pflicht und den Militärdienst bedingten Fälle
aufzählt, in denen die Entlassung aus der
Staatsangehörigkeit nicht erteilt werden darf,
knüpft daran im § 17 die Bestimmung, daß
aus anderen als den soeben erwähnten Grün-
den in Friedenszeiten die Entlassung nicht ver-
weigert werden darf. Die Auswanderung im
engeren Sinne (unabhängig von der Entlassung
aus der Staatsangehörigkeit) ist ebenfalls nur
in solchen Fällen als eine ungesetzliche unter
Strafe gestellt, in welchen sie unter Verletzung
der dem Auswandernden aus dem Gesichts-
punkte der Wehrpflicht obliegenden Verpflich-
Auswanderungswesen.
tungen erfolgt (Steb B. §§ 140, 360 Ziff. 3;
Wehrgesetz vom 9. Aov. 1867 — Bosl. 131 —
8 15 Abs. 3; RMilG. vom 2. Mai 1874 — RGBl.
45 — 8 60 Ar. 2; G., betr. Anderung der Wehr-
pflicht, vom 11. Febr. 1888 — RGBl. 11 —
§ 4 Nr. 3); s. auch Beurlaubtenstand. Auch
das G. über das A. vom 9. Juni 1897 (Röl.
463), welches nur die Auswanderung im enge-
ren Sinne regelt, hält an dem Grundsatze der
Auswanderungsfreiheit fest und sieht im § 23
Beschränkungen nur insoweit vor, als dies
durch die vorangeführten gesetzlichen Bestim-
mungen über die Wehrpflicht, durch die Rüchk-
sicht auf die Auswanderer selbst, sowie behufs
Durchführung gerichtlicher und pollizeilicher
Sicherheitsmaßregeln geboten ist (s. Ih.
II. Auswanderungsgesetz vom 9. Juni
1897 (REl. 463). Nach Art. 4 Nr. 1 M.
unterliegen der Beaufsichtigung des Reiches
und der Gesetzgebung desselben die Bestim-
mungen über die Kolonisation und die Aus-
wanderung nach außerdeutschen Ländern. In
Ausübung dieser Befugnisse wurde reichsseitig
zunächst provisorisch im Jahre 1868, dann
definitiv im Jahre 1873 ein „Reichskommissar
für das A.“ angestellt, welcher seinen Sitz in
Hamburg hatte und dem die Aufgabe gestellt
wurde, eine allgemeine Aufsicht über das A.
zu führen. Später wurde ein zweiter Reichs-
kommissar mit dem Sitze in Bremen an-
gestellt. Im übrigen blieben die landesgesetz-
lichen Bestimmungen der Einzelstaaten über
das A. in Kraft, da der § 6 GewO. aus-
drüchlich deren Anwendbarkeit auf den GEe-
werbebetrieb der Auswanderungsunternehmer
und Auswanderungsagenten ausschloß. Nach
mehreren vergeblichen Versuchen einer reichs-
gesetzlichen Regelung der Materie kam das G.
über das A. vom 9. Juni 1897 (Röl. 463)
zustande. Dasselbe verfolgt einen doppelten
Zweck. Einmal soll eine fürsorgliche Beförde-
rung der Auswanderer gesichert und damit
gleichzeitig der Vorteil berücksichtigt werden,
der den deutschen Reedereien aus der umfang-
reichen Durchwanderung erwächst. Sodann soll
den deutschen Auswanderern das Gefühl für
die Heimat möglichst erhalten werden. Das
Gesetz will einer in wirtschaftlicher und natio-
naler Beziehung zielbewußten Auswanderungs-
politik die Wege ebnen und die Auswanderung
für die Interessen des Mutterlandes dadurch
nutzbar machen, daß sie von in dieser Hinsicht
ungeeigneten Zielen abgelenkt und nach ge-
eigneten Zielen hingelenkt wird.
Dem ersteren Zwecke des Gesetzes dienen
vorzugsweise diejenigen Bestimmungen, welche
den Geschäftsbetrieb der sich mit der Beförde-
rung der Auswanderer befassenden Personen
(Unternehmer, Agenten), sowie die behördliche
Beaufsichtigung des A. regeln. Die wirtschaft-
lichen und nationalen Ziele werden vornehm-
lich durch das sog. Spezialisierungsprinzip
verfolgt, wonach den Auswanderungsunter-
nehmern die Erlaubnis nur für bestimmte
Länder erteilt wird.
III. Im einzelnen bestimmt das Gesetz fol-
gendes: a) Wer die Besörderung, von Aus-
wanderern nach außerdeutschen Ländern be-
treiben will (Unternehmer), bedarf hierzu