Full text: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung. Erster Band (A-K). (1)

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deutend erstarkt. Die Zahl ihrer Teilnehmer 
ist in dieser Zeit von 300000 auf 2 Mill. 
gestiegen. An diesem Aufschwung sind vor- 
zugsweise die sog. zentralorganisierten oder 
freien G. beteiligt, welche in der im Jahre 
1892 begründeten, zunächst in Hamburg, seit 
dem Jahre 1903 in Berlin domizilierenden 
Generalkommission ihren Mittelpunkt haben. 
In ca. 60 verschiedenen Berufsorganisationen 
vereinigen sie gegenwärtig 1 1½/2 Mill. Arbeiter. 
Die eigentlichen Gewerkschaftsaufgaben ver- 
folgen sie selbständig und unabhängig von der 
Sozialdemokratie, mit der sie indessen schon in- 
folge der gleichzeitigen Organisation vieler der 
Mitglieder in den sozialdemokratischen Wahl- 
vereinen enge Fühlung besitzen. Aoch näher steht 
der Sozialdemokratie die aus lokalen Fach- 
vereinen hervorgegangene „Freie Vereinigung 
deutscher Gewerkschaften“ mit ca. 20000, haupt- 
sächlich dem Berliner Bauhandwerk angehören- 
den Mitgliedern, welche satzungsmäßig von 
ihren Mitgliedern die Zugehörigkeit zur Sozial- 
demokratie verlangt. ie von Angehörigen 
der ehemaligen Fortschrittspartei schon Ende 
der 60er Jahre ins Leben gerufenen Hirsch= 
Dunckerschen G., welche auch gegenwärtig noch 
zu der freisinnigen Partei Beziehung haben, 
haben Rkeine größere Entwicklung genommen. 
Sie zählen zurzeit in 17 Gewerbvereinen 
ca. 120000 Mitglieder. Die nahe Fühlung 
der kath. Geistlichteit mit der Arbeiterbe- 
völkerung veranlaßte die erstere im letzten 
Drittel des vorigen Jahrhunderts zu reger 
Beschäftigung mit wirtschaftlichen Arbeiter- 
fragen, deren Erörterung in den unter geist- 
licher Leitung stehenden kath. Arbeitervereinen 
die Entwicklung dieser gleichzeitig konfessio- 
nellen und politischen Zwecken dienenden 
Vereine wesentlich unterstützte. Teils zur 
Beseitigung der Leitung durch die Geistlich- 
keit, teils zur möglichsten Beschränkung auf 
das wirtschaftliche Gebiet bildeten sich dann 
seit Mitte der 90er Jahre vorigen Jahr- 
hunderts sog. Oristliche G., welche, obwohl 
nichtkatholischen Arbeitern zugänglich, sich 
hauptsächlich aus kath. Arbeitern zusammen- 
setzen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts ver- 
einigten sie sich zu einem Gesamtverband. In 
den Prov. Rheinland und Westfalen machen 
diese G. den zentralorganisierten G. scharfe 
Konkurrenz. Sie haben zurzeit etwa 200000 
Mitglieder, von denen mehr als zwei Drittel 
in den vorgenannten Provinzen wohnen und 
80 000 Bergarbeiter sind. 
Gewichte und Gewichtsordnung s. Maß-= 
und Gewichtsordnung. 
Gewichtssteuer s. Tabaksteuer IV A. 
Gewohnheitsrecht. I. Neben dem Gesetz 
(. d.) ist die zweite, in älteren Zeiten sogar die 
hauptsächlichste Quelle des Rechts die Ge- 
wohnheit, d. h. eine längere, gleichmäßige 
Befolgung einer Regel in dem Bewußtsein 
ihrer Verbindlichleit. G. ist danach der In- 
begriff derjenigen Rechtssätze, welche sich im 
Wege der Gewohnheit gebildet haben, und 
gilt im Gegensatze zum Gesetz ohne weiteres 
als ungeschriebenes Recht. Es ist seit langer 
Zeit der Gegenstand zahlreicher Kontroverfen, 
namentlich nach der Richtung, was der innere 
  
  
  
Gewichte und Gewichtsordnung — Gewohnheitsrecht. 
Grund seiner Geltung ist, welches seine Er- 
fordernisse sind, und wie es sich zum Gesetzes- 
rechte verhält. Von der bloßen Sitte und dem 
Herkommen unterscheidet es sich dadurch, daß 
diesen die verpflichtende Kraft fehlt; doch wird 
Herkommen öfter gleichbedeutend mit G. ge- 
braucht. Das G. kann eine neue BRechts- 
norm einführen oder eine bestehende ab- 
ändern (consuetudo abrogatoria oder dero- 
gatoria), letzteres entweder im Wege eines 
bloßen Aufhebens (Entwöhnung, desuetudo) 
oder einer entgegengesetzten Gewohnheit (con- 
suetudo Ccorrectoria), ferner sich als ein bloß 
das Gesetzesrecht ergänzendes (praeter legem), 
grundsätzlich aber auch als ein das Ge- 
setzesrecht abänderndes Recht (contra legem) 
bilden. Wie das Gesetzesrecht kann es ein 
allgemeines oder spezielles, gemeines oder 
besonderes und partikulares Recht sein. Be- 
steht es bloß für einen begrenzten Kreis, 
einen gewissen Stand, ein beschränktes räum- 
liches Gebiet oder ein bestimmtes einzelnes. 
Rechtsverhältnis, so nennt man es meist Ob- 
servanz. Von der Verjährung unterscheidet 
ich das G. dadurch, daß es objektives Recht 
schafft, bei der Verjährung es sich dagegen um 
die Gestaltung, Begründung oder Aufhebung 
subjektiver Rechte handelt. Der Gerichtsge- 
brauch (usus kori) ist an sich kein G. und 
überhaupt Reine Rechtsquelle (s. Gesetze), es 
kann aber daraus das Vorhandensein von G. 
zu ersehen sein. Aur wenn bei ihm die Er- 
fordernisse des G. vorliegen, also die durch 
ihn vertretene Ansicht von den Beteiligten als 
verbindlich angesehen und befolgt wird, ist G. 
vorhanden. Aoch weniger ist das sog. Juristen- 
recht, d. h. das in der juristischen Theorie und 
Praxis, oder das Recht der Wissenschaft, d. h. 
die bloß in der Theorie zum Augdrucke ge- 
langte Rechtsauffassung, eine besondere Quelle 
des Rechts. Das G. ist wie das gesetzliche 
Recht öffentlichrechtlicher oder privatrechtlicher. 
Aatur, jenachdem das geregelte Verhältnis 
dem einen oder dem anderen der beiden 
Rechtsgebiete angehört. 
II. Während das römische und das gemeine 
Recht stets das G. im weitesten Umfange 
anerkannt haben, ist es von neueren 
Gesetzgebungen teils schlechthin 
o der doch im wesentlichen aus- 
geschlossen worden (so im kgl. Sächs- 
BE. von 1863 und im franz. Rechte), teils 
wenigstens erheblich durch Versagung der dero- 
gatorischen Wirkung gegenüber dem Gesetze 
beschränkt worden. Nach dem A#R. (Einl. 
§8 3, 4) sollten G. und Observanzen nur dann 
gesetzliche Kraft haben, wenn sie den Provin- 
zialrechten einverleibt sind, und ihre Natur 
als gültiges ungeschriebenes Recht nur noch 
so lange behalten, bis diese Kodifikation zu- 
stande gekommen sei; neues Recht aber sollte- 
durch sie weder eingeführt noch sollten vor- 
handene Gesetze durch sie aufgehoben werden 
können. Aur wenn die Gesetze ein Bechts- 
verhältnis unentschieden gelassen haben, soll 
die Observanz so lange wirksam sein, bis eine 
gesetzliche Bestimmung erfolgt. Danach ist das 
gemeine G. beseitigt, das partikulare dagegen 
selbst Rontra legeim erhalten geblieben, wo das.
	        
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