Gewohnheitsrecht.
Provinzialrecht nicht kodifiziert worden ist,
also außerhalb des Geltungsgebiets des ost-
preuß. und des westpreuß. Provinzialrechts
(s. Krovinzialrechte). Aeues G. ist überall
ungültig; praeter legem, d. h. wenn eine Lücke
im Gesetze vorhanden ist, kann es sich nach
wie vor bilden. Wo jedoch auf G. selbst ver-
wiesen ist, ist die Bildung ganz unbeschränkt.
Solche Verweisungen auf G. finden sich im
A#. und anderen Gesetzen namentlich häufig
da, wo öffentliches Recht geordnet wird, z. B.
bei der Wegebaulast und der Pflicht zur Räu-
mung von Wasserläufen; andererseits ist das
G. auch häufig durch besondere Bestimmungen
ausgeschlossen oder beschränkt worden, z. B.
Wegeordnung für die Prov. Sachsen vom
11. Juli 18991 — GS. 316 — § 43 und Wege-
ordnung für die Prov. Westpreußen vom
27. Sept. 1905 — GS. 357 — 88§ 18, 39, 43,
44. Das B. erwähnt im Gegensatze zu
seinem ersten Entwurfe, der das G. nur
soweit hatte gelten lassen wollen, als das
Gesetz selbst darauf verweise, es gar nicht,
beläßt es also bei der Geltung des G.,
und zwar sowohl des ergänzenden als des
abändernden. Wo das BE. von Gesetz
spricht, ist darunter das G. mit einbegriffen
(EcBe. Art. 2). Es kann sich daher auch in
Zukunft abänderndes und ergänzendes G.
bilden, jedoch ist dem BEB. gegenüber kein
abänderndes partikulares G. möglich wegen
des Satzes, daß Reichsrecht dem Landesrechte
vorgeht
f Das G. ist von Amts wegen anzu-
wenden auch noch erst in der Revisionsinstanz.
Ein dem Richter unbekanntes G. ist Gegen-
stand der Beweiserhebung im Preozesse, für
die an sich die gewöhnlichen Grundsätze gelten.
ANach § 293 ZPO. bedürfen G. des Beweises
nur insofern, als sie dem Gericht unbekannt
sind, bei ihrer Ermittlung ist aber das Gericht
auf die von den Parteien beigebrachten Nach-
weise nicht beschränkt, sondern befugt, auch
andere Erkenntnisquellen zu benutzen und
zum Zwecke einer solchen Benutzung das Er-
forderliche an zuordnen. Erkenntnisquellen sind
die Literatur, insbesondere frühere Entschei-
dungen, Auskünfte von Behörden und Körper-
schaften, Aussagen erfahrener Personen.
IV. Die Erfordernisse für die Bildung
von G., die beim Mangel besonderer Bestim-
mungen hierüber im AL. auch für dieses
maßgebend waren, sind eine längere Zeit
hindurch — die Zeit ist nach den Verhält-
nissen zu bemessen, die Verjährungsfristen
haben mit ihr nichts zu tun —, wieder-
holte — eine bestimmte Zahl von Handlungen
ist nicht erforderlich, — gleichmäßige — einzelne
Abweichungen sind nicht unbedingt hindernd —
Ubung und die Mieinung, damit einer Pflicht
des objektiven Rechts zu genügen (Rechtsüber-
zeugung, opinio necessitatis). Ein dabei mit-
wirkender Irrtum schließt die Bildung nicht
notwendig und namentlich dann nicht, wenn
die Ubung auch nach Erkennung des Irrtums
fortgesetzt worden ist, aus; eine auf irriger
Gesetzesanwendung beruhende Verwaltungs-
praxis ist aber nicht geeignet, ein G. zu be-
gründen (Pr VBl. 18, 368). Die Beteiligten
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brauchen nicht in einem korporativen Ver-
bande oder in einer sonstigen rechtlichen Ge-
meinschaft zu stehen, es genügt eine tatsächliche,
selbst eine bloß örtliche Gemeinschaft, sofern
es sich um dauernde Verhältnisse handelt, die
eine Regelung durch objektive Rechtsnormen
zulassen oder bedürfen (OB. 30, 296; 31, 194),
und auch einer solchen bedarf es zwar bei
Bildung einer örtlichen Observanz, nicht aber
eines sich auf größere Gebiete erstrechkenden G.
(OVS#. 42, 203). Das sog. Erfordernis der
Rationalität kann nur dahin anerkannt wer-
den, daß ein unsittlicher oder unvernünftiger
Inhalt die Annahme einer Rechtsüberzeugung
hindere.
V. Wegen des G. im Strafrechte s. Straf-
gesetzbuch. Im sonstigen öffentlichen Rechte hat
das G. Geltung, besonders ist es eine wichtige
Quelle des Kirchen-und Schulrechts und
des Völkerrechts. Für das Verfassungs-=
und Verwaltungsrecht ist seine Geltung
früher als selbstverständlich angesehen, in
neuerer Zeit jedoch bestritten worden; soweit
es sich indessen um Preußen handelt. ist sie ge-
wiß noch anzunehmen, im Gebiete des ALR.
allerdings nur mit den darin festgesetzten Be-
schränkungen seiner Wirksamkeit, obwohl diese
Beschränkungen für das bürgerliche Recht durch
das BE. beseitigt worden sind. Daß die
Befugnisse und Pflichten öffentlicher Beamten
einer die darüber bestehende Vorschrift ab-
ändernden Regelung durch G. entzogen sind
(OV#. 26, 415), und daß ein G. des Inhalts,
daß ein bestimmter Beg ein öffentlicher sei,
begrifflich unmöglich ist OVG. 36, 264), ferner
durch Observanz weder ein Weg die Eigen-
schaft als Chausseeverlierer noch die auf einer
Wegegeldgerechtigkeit beruhende Unterhal-
tungspflicht auf einen anderen übergehen
kann (OV#. 46, 293), steht noch nicht jener
Annahme der Geltung des G. für das preuß.
Verwaltungsrecht entgegen. Wegen der Ob-
servanz hinsichtlich der Räumung eines Mühlen-
bachs s. O. 46, 324.
VI. Mitunter wird von Ortsüblichem oder
Ortsgewöhnlichem gesprochen. Die Be-
deutung dieser Bezeichmungen ist verschieden.
In den 88 11 Abs. 3, 23 Abs. 3 UWd. vom
6. Juni 1870/12. März 1894 (REl. 259)
— ortsübliches Herkommen, ortsüblicher Um-
zugstermin — müssen dabei die Voraussetzun-
gen des G. gefordert werden. Das nach den
örtlichen Verhältnissen Gewöhnliche in dem
die sog. Immission betreffenden § 906 BE.
ist dagegen eine rein tatsächliche Ubung ohne
das subjektive Element des Rechtsbewußtseins.
Das gleiche gilt z. B. noch von der Veröffent-
lichung des Vorhabens, einen öffentlichen Weg
einzuziehen oder zu verlegen, in ortsüblicher
Weise (3G. 8 57), der ortsüblichen Bekannt-
machung bei der Veräußerung von Gemeinde-
grundstücken gemäß § 115 Ziff. 2 LGO. vom
3. Juli 1891, der Bekanntmachung des Antrags
auf Erteilung der Ansiedlungsgenehmigung
auf ortsübliche Art (G. vom 10. Aug. 1904 —
GS. 227 — §P 10), der Bekanntmachung, wie
der Fluchtlinienplan zu jedermanns Einsicht
offengelegt werden solle, in der ortsüblichen
Art nach §7 des G. vom 2. Juli 1875 (0. 561),
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