Full text: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung. Erster Band (A-K). (1)

Gymnasien und andere höhere Schulen. 
zu den Universitätsstudien 1892 ihrer Lösung 
nicht näher geführt. Neben den obengenannten 
drei Schularten hatte sich inzwischen eine vierte: 
die Reformschule, in verschiedener Weise ent- 
wickelt. Sie will das Alter, in welchem die 
Schüler sich für die eine oder andere Richtung 
zu entscheiden haben, nach Möglichkeit hinaus- 
schieben. Das System ist dabei ein verschie- 
denes. Nach der beim Goethegymnasium in 
Frankfurt a. M. getroffenen Einrichtung be- 
ginnt der franz. Unterricht in Sexta, der latei- 
nische in Untertertia, der griechische in Unter- 
seniunda. Bei den Realgymnasien („Wöhler- 
schule“ und „Musterschule" in Frankfurt a. M.) 
tritt an die Stelle des Griechischen das Eng- 
lische. So ist in den drei unteren Klassen, 
Sexta bis Quarta, ein gemeinsamer Unterbau 
für G., Realgymnasium und Oberrealschule, 
in Unter-= und Obertertia auch für die beiden 
ersteren geschaffen. Das ist sehr wichtig insbe- 
sondere auch für kleinere Städte, die nur eine 
höhere Lehranstalt unterhalten können. Jede 
fremde Sprache wird in einem mehrjährigen 
Zeitraum befestigt, ehe eine neue hinzutritt; der 
fremdsprachliche Unterricht geht vom leichtern 
zum schwerern über; bis zum zwölften Jahre 
überwiegen die realistischen Fächer, welche der 
Anschauung näher liegen. Die Ausbildung in 
der Muttersprache ist zunächst eine gründliche. 
— Etwas anders ist das Altonaer System, 
die Vereinigung von Realgymnasium und 
Realschule. LHasslbe beginnt mit dem Französi- 
schen in Sexta, mit dem Englischen in Quarta, 
mit dem Lateinischen in der Untertertia. 
Zurzeit arbeiten in Preußen etwa 57 Schulen 
nach dem Frankfurter, 7 nach dem Altonaer 
Reformsystem, davon 39 im Westen, 2 in Ost- 
preußen, 5 in Westpreußen, 3 in Posen, 5 in 
Brandenburg, 1 in Pommern, 3 in Schlesien, 
3 in Sachsen, 3 in Schleswig-Holstein. — Eine 
besondere Abschlußprüfung, für die Be- 
rechtigung zum einj.-freiw. Militärdienst 1892 
eingeführt (U. ZBl. 1892, 281), um ungeeignete 
Kräfte von den G. fern zu halten, fand allge- 
meinen Widerstand. — So drängten diese 
Umstände zu einer neuen Revision, welche 
durch AOrder vom 26. Nov. 1900 (M.ZBl. 854) 
eingeleitet wurde: 
„Ich erkläre mich damit einverstanden, daß 
die von Mir im Jahre 1892 eingeleitete Reform 
der höheren Schulen nach folgenden Gesichts- 
punkten weitergeführt wird.“ 
1. Bezüglich der Berechtigungen ist da- 
von auszugehen, daß das G., Realgymnasium 
und die Oberrealschule in der Erziehung zur 
allgemeinen Geistesbildung als gleichwertig 
anzusehen sind und nur insofern eine Ergän- 
zung erforderlich bleibt, als es für manche 
Studien und Berufszweige noch besonderer 
Vorkenntnisse bedarf, deren Vermittlung nicht 
oder doch nicht in demselben Umfange zu den 
Aufgaben jener Anstalt gehört. Dementspre- 
chend ist auf die Ausdehnung der Berechti- 
gungen der realistischen Anstalten Bedacht zu 
nehmen. Damit ist zugleich der beste Weg 
gewiesen, das Ansehen und den Besuch dieser 
Anstalten zu fördern und so auf die Krößere 
Verallgemeinerung des realistischen Wissens 
hinzuwirken. 
  
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2. Durch die grundsätzliche Anerkennung der 
Gleichwertigkeit der dreihöheren Lehr- 
anstalten wird die Möglichkeit geboten, die 
Eigenart einer jeden kräftiger zu be- 
tonen. Mit Rüchsicht hierauf will Ich nichts 
dagegen erinnern, daß im Lehrplan der G. 
und Realgymnasien das Lateinische eine 
entsprechende Verstärkung erfährt. Be- 
sonderen Wert aber lege Ich darauf, daß bei 
der großen Bedeutung, welche die Kenntnis 
des Englischen gewonnen hat, diese Sprache 
auf den G. eingehender berüchsichtigt wird. 
Deshalb ist überall neben dem Griechischen 
englischer Ersatzunterricht bis Untersekunda 
u gestatten und außerdem in den drei oberen 
lassen der G., wo die örtlichen Verhältnisse 
dafür sprechen, das Englische an Stelle des 
Französischen unter Beibehaltung des letzteren 
als fahultativen Unterrichtsgegenstandes obli- 
gatorisch zu machen. Auch erscheint es Mir 
angezeigt, daß im Lehrplan der Oberreal- 
schulen, welcher nach der Stundenzahl noch 
Raum dazu bietet, die Erdkunde eine aus- 
giebigere Fürsorge findet. 
3. In dem Unterrichtsbetriebe sind seit 1892 
auf verschiedenen Gebieten unverkennbare 
Fortschritte gemacht. Es muß aber noch mehr 
geschehen. Namentlich werden die Direktoren, 
eingedenk der Mahnung: „Multum, non multa", 
in verstärktem Maße darauf zu achten haben, 
daß nicht für alle Unterrichtsfächer gleich hohe 
Arbeitsforderungen gestellt, sondern die wich- 
tigsten unter ihnen nach der Eigenart der ver- 
schiedenen Anstalten in den Vordergrund ge- 
rückt und vertieft werden. 
Für den griech. Unterricht ist entscheidendes 
Gewicht auf die Beseitigung unnützer For- 
malien zu legen und vornehmlich im Auge zu 
behalten, daß neben der ästhetischen Auffassung 
auch die den Zusammenhang zwischen der 
antiken Welt und der modernen Kultur auf- 
weisende Betrachtung zu ihrem Rechte kommt. 
Bei den neueren Sprachen ist mit beson- 
derem Nachdruckh Gewandtheit im Sprechen 
und sicheres Verständnis der gangbaren Schrift- 
steller an zustreben. 
Im Geschichtsunterricht machen sich noch 
immer zwei Lücken fühlbar: die Vernachlässi- 
gung wichtiger Abschnitte der alten Geschichte 
und die zu wenig eingehende Behandlung der 
deutschen Geschichte des 19. Jahrh. mit 
ihren erhebenden Erinnerungen und großen 
Errungenschaften für das Vaterland. 
Für die Erdkunde bleibt sowohl auf den 
G. wie auf den Realgymnasien zu wünschen, 
daß der Unterricht in die Hand von Fach- 
lehrern gelegt wird. 
Im naturwissenschaftlichen Unterricht 
haben die Anschauung und das Experiment 
einen größeren Raum einzunehmen und häu- 
figere Exkursionen den Unterricht zu beleben; 
bei Physik und Chemie ist die angewandte 
und technische Seite nicht zu vernachlässigen. 
Für den Zeichenunterricht, bei dem übri- 
gens auch die Befähigung, das Angeschaute in 
rascher Skizze darzustellen, Berüchsichtigung 
verdient, ist bei den G. dahin zu wirken, daß 
namentlich diesenigen Schüler, welche sich der 
Technik, den Naturwissenschaften, der Mathe- 
49°
	        
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