Reichsfinanzwesen
diesem Deckungsmittel regelmäßig zur Deckung 1905.
des sog. außerordentlichen Bedarfs Gebrauch starkes Anwachsen.
gemacht. Man ist sogar vereinzelt noch darüber
hinausgegangen und hat auch zu Ausgaben des
ordentlichen Etats die Anleihe herangezogen, in-
dem man von der Auffassung ausging, daß die
von der Verfassung angenommenen „Fälle eines
außerordentlichen Bedürfnisses“ mit dem budget-
technischen Ausdruck „außerordentlicher Bedarf“
(außerordentliche Ausgaben) sich nicht decken,
sondern Fälle bezeichnen, in denen infolge
außerordentlicher Umstände der Bedarf auf
einem anderen Wege nicht befriedigt werden
kann (Zuschußanleihen). Das Charakteristische
dieser Gestaltung des R. ist, daß es im Reichs-
haushalte nie ein eigentliches Defizit geben
kann, da die Bundesstaaten für jeden Fehlbetrag
im Etat bis zu seiner vollen Höhe aufzukommen
haben. In der Verfassung besteht kein Hindernis,
die Bundesstaaten sogar für die Ausgaben des
außerordentlichen Etats in Anspruch zu nehmen.
Dies ist jedoch nie geschehen; man hat vielmehr
zugunsten der Matrikularbeitragspflicht der Bun-
desstaaten die Anleihe im weitesten Umfange
herangezogen, indem man nicht nur, wie er-
wähnt, grundsätzlich alle Ausgaben des außer-
ordentlichen Etats der Anleihedeckung überwies,
sondern dabei den Begriff der außerordentlichen
Ausgaben noch tunlichst ausdehnte auch auf
Aufwendungen, die ihrem Wesen nach den
ordentlichen Ausgaben näher standen. Ferner
ist dem R. eigentümlich, daß die eigenen Ein-
nahmen des Reichs der für die Balancierung
des Etats erforderlichen Beweglichkeit entbehren,
da die Erträge der indirekten Steuern zwar
mit der Bevölkerungsvermehrung und dem
zunehmenden Wohlstand anzusteigen pflegen,
aber den Schwankungen der jeweiligen Etats-
bedürfnisse nicht unmittelbar angepaßt wer-
den können, weil sie auf Sätzen beruhen, die für
längere Dauer teils gesetzlich, teils sogar durch
internationale Abmachungen (Handelsverträge)
festgelegt sind. Die wichtige Aufgabe der Her-
stellung des Gleichgewichts zwischen den Aus-
gaben und Einnahmen des Reichshaushaltsctats
fällt also allein den nach dem jährlichen Deckungs-
bedarf sich bemessenden Matrikularbeiträgen zu,
die das einzige bewegliche Glied in dem Deckungs-
system des R. bilden. Darin liegt die finanz-
politische Wichtigkeit der Matrikularbeiträge, die
sie für das R. so lange unentbehrlich macht als
es nicht gelingt, an ihrer Stelle einen anderen
beweglichen Faktor für das Deckungssystem
im R. zu schaffen. Der den Matrikularbeiträgen.
anhaftende Mangel, daß sie die Lasten in un-
gerechter Weise nach der Kopfzahl statt nach der
Leistungsfähigkeit verteilen, hat das Problem
einer Veredelung der Matrikularbeiträge ge-
zeitigt, das bisher ungelöst geblieben ist und
so lange ungelöst bleiben wird als nicht ein
gemeinsamer Maßstab für die finanzielle Lei-
stungsfähigkeit der Bundesstaaten, etwa in den.
Ergebnissen von nach gleichmäßigen Grund-
sätzen veranlagten und erhobenen direkten Steu-
ern, geschaffen ist. Ob die Reichserbschaftssteuer
dieses Problem seiner Lösung einen Schritt
näher bringen kann, ist noch abzuwarten.
II. Entwickelung des R. von der
Gründungdes Reichs bis zum Jahr
383
Die Ausgaben des Reichs zeigen ein
Der Geldbedarf des Reichs
hat sich in dem Zeitraum von 30 Jahren bis
zum Ende des vorigen Jahrhunderts ungefähr
verdreifacht, während die Bevölkerung nur etwa
um die Hälfte zugenommen hat. Schon dieses
starke Anschwellen der Ausgaben des Reichs,
das die natürliche, in der Bevölkerungszunahme
und in dem wachsenden Wohlstande begründete
Entwickelung der Finanzquellen weit überholte,
forderte eine Verbesserung und weitere Aus-
gestaltung der von Anfang an als nicht aus-
reichend erkannten Ordnung des R. Nach
der offenkundigen Absicht der Verfassung sollte
das R. sich in der Weise weiter entwickeln,
daß dem Reiche neue Steuern (Reichssteuern)
zugewiesen werden und dadurch die Matriku-
larbeitragspflicht der Bundesstaaten ermäßigt
oder entbehrlich gemacht werde. Ein 1875 ge-
machter Versuch zur Vermehrung der Reichs-
steuereinnahmen durch Erhöhung der Brau-
steuer um das Doppelte der seitherigen Sätze
und Einführung einer Besteuerung der Schluß-
noten usw. scheiterte (BzDrucks. 1875 Nr. 74,
76). Erst 1879 setzte die tatsächliche Weiterent-
wickelung des R. ein. Bis dahin wurde die
Matrikularbeitragspflicht der Bundesstaaten mit
Beiträgen von rund 52—82 Mill. Mark jährlich
in Anspruch genommen. In den Jahren 1879
bis 1902 erfolgte eine Reihe wesentlicher Ver-
besserungen und Vermehrungen der Einnahme-
quellen des Reichs. Den Anfang machten die
Zolltarifreform von 1879, die neben dem finan-
ziellen auch wirtschaftspolitische Ziele verfolgte,
(RBl. 1879, 207) und die gleichzeitige Reform
der Tabaksteuer (Rol. 1879, 245) sowie die
Einführung der Spielkartensteuer (RGl. 1878,
133). Mährend ein in den Jahren 1879/81
mehrfach wiederholter Versuch der Erhöhung
der Brausteuer (BRDrucks. 1879 Nr. 61 I u. II,
1880 Nr. 18 u. 172, 1881 § 109 der Prot.) so-
wie der Versuch der Einführung einer Reichs-
wehrsteuer (BDrucks. 1880 Nr. 78) und der Ein-
führung des Tabakmonopols (BMRrrucks. 1882
Nr. 46) an der ablehnenden Haltung des Reichs-
tags scheiterten, gelang nach wiederholten zunächst
erfolglos gebliebenen Versuchen 1881 die Ein-
führung der Börsensteuer (Rl. 1881, 185);
außerdem wurde 1887 an Stelle des von den ver-
bündeten Regierungen zunächst vorgeschlagenen
Branntweinmonopols (BRrucks. 1886 Nr. 2) die
Schaffung einer ergiebigen Reichsbranntwein-
steuer unter Aufhebung der finanziell bedeutungs-
losen gesonderten Branntweinsteuern der nord-
deutschen Branntweinsteuergemeinschaft und der
süddeutschen Staaten erreicht (R Bl. 1887, 253).
Neben mehrfacher Anderung und Verbesserung
des ZollT. (insbesondere 1885 — RBl. 93/107
— und 1887 — Rl. 533/34), der Zuckersteuer
(1883 — RGBl. 157 —, 1885 — RGBl. 91 —,
1886 — RGBl. 181 —, 1887 — RBl. 308 —.,
1891 — RGBl. 295 —, 1896 — RBl. 117 —
und 1903 — Rl. 1) und der Börsensteuer
(1885 — RBl. 171 —, 1894 — Rl. 369 —
und 1900 — RGBl. 260) ist 1902 noch die Ein-
führung einer Reichsschaumweinsteuer (R#Bl.
155) erreicht worden. (S. auch die betreffenden
Sonderartikel.) Diese verschiedenen Zoll-= und
Steuerreformen brachten eine wesentliche Er-