Reichsfinanzwesen 385
der grundlegenden Verfassungsbestimmungen: geforderten Matrikularbeiträge, soweit sie den
Die Erträge der Zölle und der Tabaksteuer Betrag von rund 24 Mill. Mark, der da-
wurden von der Frankensteinschen Klausel be= mals als die Grenze der Leistungsfähigkeit der
freit, dagegen wurde der Charakter der Über= Bundesstaaten angesehen wurde, überstiegen,
weisungssteuer auf die gesamte Branntwein= vorerst für das betreffende Rechnungsjahr aus-
steuer mit Ausnahme der Brennsteuer ausge= zusetzen, bis der zur Deckung des Bedarfs für
dehnt (§ 1). Die Überweisungspolitik wurde dasselbe nach den wirklichen Ergebnissen des
also auf ungefähr ein Drittel ihres bisherigen Reichshaushalts erforderliche Betrag festgestellt
Umfangs beschränkt. Der Art. 70 RV. wurde war (Etatsgesetz Für 1904 vom 20. Mai 1904 —
dahin geändert, daß die etwaigen Uberschüsse ReBl. 171 — §& 4, und für 1905 vom 1. April
der Vorjahre aus dem Kreise derjenigen Reichs= 1905 — RGBl. 181— * 4). Die auf diese Weise
einnahmen, die zunächst zur Bestreitung aller gestundeten Matrikularbeiträge bezifferten sich
gemeinschaftlichen Ausgaben zu dienen haben, auf rund 70 Mill. Mark. Dementsprechend mußte
ausscheiden und, soweit durch das Gesetz über auch, um dem Reiche die nötigen flüssigen Be-
den Reichshaushaltsetat nicht ein anderes be= triebsmittel zur Verfügung zu stellen, der Schatz-
stimmt ist, zur Deckung gemeinschaftlicher außer- anweisungskredit in erhöhtem Maße in Anspruch
ordentlicher Ausgaben zu dienen haben. Die genommen werden (1904 bis zum Betrage von
bekannte, das System der Matrikularbeiträge 275 Mill. Mark, 1905 bis zum Betrage von
als ein provisorisches und subsidiäres kenn- 375 Mill. Mark.].
zeichnende Klausel des Art. 70 RV. (solange) III. Reichsfinanzreform von 1905/06.
Reichssteuern nicht eingeführt sind“), welche die Am 28. Nov. 1905 haben die verbündeten
verbündeten Regierungen in einer den geänder- Regierungen dem Reichstag einen Gesetz-
ten Verhältnissen angepaßten Form beibehalten entwurf zur verfassungsmäßigen Beschlußfassung
wissen wollten, ist aus der RV. entfernt und vorgelegt, durch den eine Ordnung des NR. in den
damit den Matrikularbeiträgen der provisorische drei oben bezeichneten Richtungen erzielt werden
Charakter genommen worden. Weiter ist dem sollte (Entwurf eines G., betr. die Ordnung des
Art. 70 RNV. eine Bestimmung (Rückdeckungs= Reichshaushalts und die Tilgung der Reichs-
klausel) beigefügt worden, nach der die ungedeck= schuld — RI Drucks. 1905/06 Nr. 10). Zunächst
ten Matrikularbeiträge den Bundesstaaten am sollten die Einnahmen des Reichs durch Er-
Jahresschluß in dem Maße zu erstatten sind, als schließung neuer Einnahmequellen um den Be-
die übrigen ordentlichen Einnahmen des Reichs trag von etwa 255 Mill. Mark jährlich erhöht
dessen Bedarf übersteigen (§ 2). Hiernach werden, einerseits um die ständige Unterbilanz
waren also die Uberschüsse zunächst zur Ent= im eigenen Haushalte des Reichs, die auf min-
schädigung der Bundesstaaten für geleistete un= destens 80—90 Mill. Mark berechnet wurde, zu
gedeckte Matrikularbeiträge zu verwenden, und beseitigen, andererseits um die Durchführung
nur soweit sie dadurch nicht erschöpft wurden, der großen und bedeutungsvollen Aufgaben,
dem außerordentlichen Etat zu überweisen. Diese die für das Reich in den nächsten Jahren ins-
Bestimmung ist für das Reichsschuldenwesen besondere auf dem militärischen Gebiete zu er-
nicht von erheblicher Bedeutung geworden. warten waren, sowie die endliche Inangrifs-
Durch die gedachte Aktion war die notwendige nahme einer planmäßigen Tilgung der Reichs-
Reform des R. keineswegs abgeschlossen, sondern schuld zu ermöglichen. Der Gesetzentwurf wollte
nur angebahnt worden. Die letztere erforderte die Vermehrung der Reichseinnahmen erzielen:
vor allem eine erhebliche Vermehrung der Reichs= 1. durch eine wesentliche Erhöhung der Brau-
einnahmen, eine feste Regelung des finanziellen steuer und des Eingangszolls für Bier um rund
Verhältnisses zwischen Reich und Bundesstaaten 67 Mill. Mark; 2. durch eine Erhöhung des
und die Inangriffnahme der Tilgung der Jahr Zolls auf Rohtabak und Tabakfabrikate (außer
für Jahr erheblich anwachsenden Reichsschuld, zus Zigaretten) sowie der Tabatsteuer um im ganzen
deren Verminderung in den Jahren 1895 Mark; 3. durch Einführung einer
bescheidene und sehr bald völlig versagende Ver- # Fabrikatstener für Zigaretten in Verbindung
suche gemacht worden sind (G. wegen Verwen= mit einer beträchtlichen Erhöhung des Einfuhr-
dung überschüssiger Reichseinnahmen zur Schul- — zolls für diese Ware mit einem Gesamtertrage
dentilgung vom 16. April 1896 — Rl. 103;’von 15 Mill. Mark; 4. durch eine Steigerung
vom 24. März 1897 — Rl. 95; vom 31. Märzsi des Ertrags der Reichsstempelabgaben um
1898 — RGl. 138; vom 25. März 1899 —72 Mill. Mark, die durch Ausdehnung des Fracht-
RG#Bl. 189; vom 30. März 1900 — RGBl.. 173), urkundenstempels auf den Binnenschiffs= und
die nur eine Tilgung von 142,9 Mill. Mark er- Landfrachtverkehr (41 Mill. Mark), sowie da-
zielten, während auf der anderen Seite die durch erreicht werden sollte, daß eine Besteuerung
erheblichen Anforderungen des außerordentlichen der Personenfahrkarten im Eisenbahn= und
Etats ein weit darüber hinausgehendes An- Dampfschiffverkehr mittels eines nach Fahr-
wachsen der Reichsschuld zur Folge hatten. Der llassen abgestuften Feststempels (12 Mill. Mark),
Mangel an den erforderlichen Einnahmen hat eine Stempelabgabe von Erlaubnisscheinen für
1903 sogar dazu geführt, daß selbst zur DeckungKraftfahrzeuge (3 Mill. Mark) und ein Quittungs-
der Ausgaben des ordentlichen Etats die An= stempel (16 Mill. Mark) in das Reichsstempel-
leihe in Anspruch genommen werden mußte gesetz neu eingefügt werden sollten; 5. durch
(Zuschußanleihe, deren Deckung durch G. vom Einführung einer gleichmäßigen Erbschaftssteuer
28. März 1903 — REBl. 109 — besonders ge-für den gesamten Umfang des Reichs verbunden
regelt wurde). Ferner hat man sich in den Jahren mit einer Steuer von Schenkungen unter Leben-
1904 und 1905 zur Schonung der Bundesstaaten den, an deren Ertrag das Reich nach Bedarf bis
genötigt gesehen, die Erhebung der von ihnen I zur Höhe von zwei Dritteln des auf 72 Mill. Mark
v. Bitter, Handwörterbuch der preußischen Verwaltung. 2. Aufl. II. 25