Full text: Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung. Zweiter Band (L-Z). (2)

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zu jedem Gesetze erforderlich (Art. 62). Nur 
in Notfällen kann der König, wenn die Kam- 
mern nicht versammelt sind, Verordnungen mit 
Gesetzeskraft erlassen, welche jedoch den Kam- 
mern sofort bei ihrem nächsten Zusammentritt 
zur Genehmigung vorzulegen sind (Art. 63; s. 
Notverordnungenhyy). Das Recht, Gesetze 
vorzuschlagen, steht dem Könige und jedem 
Hause des Landtages zu; Gesetzesvorschläge, 
welche durch eins der Häuser oder den König 
verworfen sind, können in derselben Sitzungs- 
periode nicht wieder vorgelegt werden (Art. 64). 
Nicht minder eingreifend ist die Mitwirkung der 
Volksvertretung auf dem Gebiete des Finanz- 
wesenns. Alle Einnahmen und Ausgaben 
müssen für jedes Jahr im voraus veranschlagt 
und auf den Staatshaushaltsetat gebracht wer- 
den, welcher jährlich durch ein Gesetz festgestellt 
wird (Art. 99). Die Staatshaushaltsetats und 
Finanzgesetzentwürfe werden dem AbgH. zuerst 
vorgelegt; die Staatshaushaltsetats können vom 
Herrenhause nur im ganzen angenommen oder 
abgelehnt werden (Art. 62). Die Aufnahme von 
Anleihen für die Staatskasse kann ebenso wie 
die Übernahme von Garantien zu Lasten des 
Staates gleichfalls nur auf Grund eines Ge- 
setzes stattfinden (Art. 103). An der Staats- 
schuldenverwaltung nehmen Mitglieder des Land- 
tages teil (G., betr. die Verwaltung des Staats- 
schuldenwesens und Bildung einer Staatsschul- 
denkommission, vom 24. Febr. 1850 — GS. 57 
— 8§§ 1, 10 ff.). Zu Etatsüberschreitungen ist 
die nachträgliche Genehmigung des Landtages er- 
forderlich, welchem auch die von der Oberrech- 
nungskammer aufzustellende und mit ihren Be- 
merkungen zu versehende Jahresrechnung überden 
Staatshaushaltsetat zur Entlastung der Staats- 
regierung vorzulegen ist (Art. 104 und § 18 des 
Oberrechnungskammergesetzes vom 27. März 1872 
— G. 278). Steuern und Abgaben für die Staats- 
kasse dürfen nur, soweit sie in den Staatshaushalts- 
etat aufgenommen oder durch besondere Gesetze 
angeordnet sind, erhoben werden (Art. 100). 
Wegen der Zustimmung zu gewissen Verträgen 
(Art. 48) s. Staatsverträge. — Die Fest- 
stellung des Staatshaushaltsetats gewährt der 
Landesvertretung das wirksamste Mittel, ihre 
Meinung der Regierung gegenüber zur Gel- 
tung zu bringen und eine Einwirkung auf die 
Verwaltung auszuüben. Weitere Handhaben 
hierzu bietet beiden Häusern das Recht, Adressen 
an den König zu richten (Art. 81 Satz 1; s. 
Adressen); die Befugnis, an sie gerichtete 
Schriften an die Minister zu überweisen (s. 
Petitionsrecht) und von denselben Aus- 
kunft über eingehende Beschwerden zu verlan- 
gen (Art. 81 Satz 3), sowie die weitere Befugnis, 
behufs ihrer Information Kommissionen zur 
Untersuchung von Tatsachen zu ernennen (sog. 
parlamentarische Untersuchungskommissionen; 
Art. 82; Kommissionen in den 
parlamentarischen Vertretungs- 
körpern)g). Die Formen, in welchen die Häuser 
des Landtages ihrer Willensmeinung der Re- 
gierung gegenüber Ausdruck geben, sind, soweit 
es sich nicht um die Gesetzgebung handelt, ge- 
schäftsordnungsgemäß verschieden. In der Haupt- 
sache dienen hierzu Anträge, Resolutionen, Über- 
weisungen der Petitionen, Interpellationen (s. d.). 
  
  
  
Verfassung (preußische) 
VI. Beide Häuser des Landtags regeln ihren 
Geschäftsgang und ihre Disziplin durch 
eine Geschäftsordnung (Herrenhaus 
zuletzt Fassung vom 15. Juni 1892; Abgeordneten- 
haus zuletzt Fassung vom 16. Mai 1876, in 
neuerer Zeit erheblich verschärft) und erwählen 
ihre Präsidenten, ihre Vizepräsidenten und 
Schriftführer (Art. 78 Abs. 1). Die Sitzungen 
sind öffentlich; geheime Sitzungen finden auf 
Antrag des Präsidenten oder von zehn Mit- 
gliedern statt (Art. 79). Die Minister, sowie 
die zu ihrer Vertretung abgeordneten Staats- 
beamten haben Zutritt zu jedem Hause und 
müssen auf ihr Verlangen zu jeder zest gehört 
werden. Auf der anderen Seite kann jedes 
Haus die Gegenwart der Minister verlangen 
(Art. 60). Zu gemeinschaftlichen Sitzungen ver- 
einigen sich die Häuser, abgesehen von der 
Eröffnung und Schließung, welche durch den 
König in Person oder durch einen dazu von 
ihm beauftragten Minister geschieht (Art. 77 
Abs. 1), nur zur Entgegennahme des eidlichen 
Gelöbnisses des Königs oder Regenten (Art. 54 
Abs. 2 und 58), sowie zur Beschlußfassung über 
die Notwendigkeit einer Regentschaft (s. d.) und 
die Wahl eines Regenten (Art. 57, 58). Die- 
Mitglieder beider Häuser des Landtages leisten 
dem Könige den Eid der Treue und des Gehor- 
sams und beschwören die gewissenhafte Be- 
obachtung der V. (Art. 108 Abs. 1). Sie sind 
Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen 
nach ihrer Überzeugung und sind an Aufträge 
und Instruktionen nicht gebunden (Art. 83). 
Sie können wegen ihrer Abstimmungen nie- 
mals, wegen ihrer in Ausübung ihres Berufes 
getanenen Außerungen nur innerhalb des fuses, 
dem sie angehören, auf Grund der Geschäfts- 
ordnung zur Rechenschaft gezogen werden 
(Art. 84; . Redefreiheit). Besonderen 
Schutz genießen die Mitglieder des Landtages 
für ihre Person (Immunität), welche ihnen 
auch während der Vertagung verbleibt. Neben den 
strafgesetzlichen Bestimmungen (St GB. 88§ 105, 
106, von denen § 105 auch den Schutz der 
parlamentarischen Versammlungen als solcher be- 
trifft) kommen hierbei die Vorschriften des Art. 84 
Abs. 2 u. 3 Vl.; § 6 Ziff. 1, EGSt PO. vom 
1. Febr. 1877 (Rel. 346) und §8 904 Ziff. 1 
und 905 Ziff. 1 RZPO. in der Fassung vom 
20. Mai 1898 (RöBl. 410) in Betracht. Nach 
denselben kann kein Mitglied eines Hauses 
während der Sitzungsperiode ohne die Genehmi- 
gung des letzteren wegen einer mit Strafe be- 
drohten Handlung zur Untersuchung (auch Vor- 
untersuchung und Haussuchung) gezogen oder 
verhaftet werden, außer wenn es bei Ausführung 
der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden 
Tages nach derselben ergriffen wird. Eine 
gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung 
wegen Schulden notwendig und nach 3#O. 
§§ 382, 402, St PO. §§ 49, 72, wenn das Mit- 
lied eines Hauses außerhalb des Sitzes des 
etzteren als Zeuge oder Sachverständiger ver- 
nommen werden soll. Auch wird jedes Straf- 
verfahren und eine jede Untersuchung oder 
Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode auf- 
gehoben, wenn das betreffende Haus es ver- 
langt. Das Amt eines Geschworenen oder 
Schöffen kann von den Mitgliedern der beiden
	        
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